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Das Patent

Titel: Das Patent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Child
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dort rollten. Harvey Schwartz, der beleibte Garderobier, erblickte Hagen und grinste breit. »He, schaut mal alle her!«, rief er, tauchte aus einem Rudel Wäscherinnen auf und deutete in Hagens Richtung. »Da ist die lahme Ente!«
    »Yeah, yeah«, murmelte Hagen. Er riss sich das Hemd vom Leib, öffnete seinen Spind und schlüpfte in das darin hängende feuerfeste Nomex-Wams. Er blickte sich leicht unbehaglich um. Trotz der bemüht fleißigen Atmosphäre kannte man im Bereich hinter der Bühne Traditionen wie in jedem anderen Park. Ein Brauch etwa bestand darin, jenen Kollegen, die ihren letzten Arbeitstag absolvierten, einen Streich zu spielen.
    Ein Kostümassistent kam, um Hagen in die Rüstung zu helfen. Hagen inspizierte jedes einzelne Teil - Kettenhemd, Beinkleider, Stiefel - und suchte argwöhnisch nach irgendwelchen unwillkommenen Beigaben. Im vergangenen Monat hatte man Hundekacke in den Helm eines Burschen gepackt, der den letzten Ensembletag hatte. Bis der arme Hund das Zeug entdeckte, war es zu spät gewesen. Er hatte die ganze Vorstellung durchspielen müssen, während der Dreck durch seine Rüstung gesickert war.
    Die Prüfung ergab jedoch nichts Nachteiliges, und so gab Hagen dem Assistenten das Zeichen, ihm den Helm aufzusetzen. Auf der Stelle schrumpfte seine Welt zu dem kleinen Rechteck aus Licht zusammen, das durch das Visier fiel. Es war eigentlich weniger die Rüstung, die ihm auf den Keks ging - Aluminium war schließlich leicht und relativ flexibel -, es war der Sichtverlust. Und dann der Geruch: Am Ende der Vorstellung roch das Innere der Rüstung meist wie eine ungelüftete Umkleidekabine.
    Als der Vorhang sich hob und die Show begann, hörte er die Fanfaren und den anschwellenden Jubel des Publikums.
    Der Assistent schloss die letzte Schnalle, schaltete den kleinen, am Helm befestigten IF-Sender ein, reichte ihm Schwert und Schild und klopfte ihm auf den Rücken, um anzuzeigen, dass er fertig war. Hagen nickte zu Harvey Schwartz hinüber und bahnte sich den Weg über die Treppe hinter die Kulissen zurück. Es war sehr schwierig, in einer Rüstung zu gehen. Er musste aufpassen, wohin er trat: Wenn er ausrutschte und hinfiel, konnte er ohne fremde Hilfe nicht wieder aufstehen.
    Als Hagen sich in der Seitenkulisse befand, lugte er durch einen Verdunkelungsvorhang hinaus. Er erblickte eine Menge Köpfe. Das mit dreitausend Sitzplätzen versehene Theater war rammelvoll. »Der Kampf um den Greifenturm« war vor etwa vier Monaten uraufgeführt worden und zählte seither zu den heißesten Live-Action- Shows von Utopia. Besonders kleine Kinder waren wild darauf, die Charaktere aus der »Feverstone-Chronik« - Nightingales Trickfilmserie über ein mythisches, magisches Camelot - in Lebensgröße zu sehen. Als Hagen die von fünfundzwanzigtausend Watt starken Röhrenblitzen und flackernden Lasern beleuchteten Kindergesichter lächeln sah, verspürte er ein leises, bohrendes Nagen von Selbstzweifel.
    Utopia war ein guter Arbeitsplatz gewesen. Vor Jahren, während der Collegezeit, hatte er als Disney- Flussbootkapitän gearbeitet und auf Besucher eingequasselt. Utopia war ganz anders. Na schön, das Beharren auf Authentizität, dieser Geschichtsunterricht, nutzte sich ziemlich schnell ab. Bei jeder Vorstellung waren immer ein bis zwei »Kindermädchen« anwesend, um die historische Genauigkeit zu überprüfen und Punkte an die besten Darsteller zu verteilen. Aber die Gage hier war die beste in der Branche. Jede Woche kriegte man für zweihundert Kröten Gratisjetons fürs Kasino. Und schwere Arbeit wurde belohnt: Wer gut war, konnte öfter auftreten. Da kam man schnell zu einer Sprechrolle oder wurde gar Solist.
    - Und doch: Hagen konnte sich nicht mit der Wüste anfreunden. Viele Akteure - jene, die sich scheuten, täglich rund fünfundvierzig Kilometer aus den nördlichen Bezirken von Las Vegas hin- und herzufahren - hatten sich in der Ortschaft Creosote niedergelassen, die nur wenige Kilometer im Norden des Parks an der U.S. 95 lag. Im letzten Jahr hatte sich aus dem, was zuvor kaum mehr als eine Wüstenraststätte gewesen war, eine geschäftige Ansiedlung aus Wohnmobilen und Bungalows entwickelt mit einem turbulenten Nachtleben und der Aura einer Universitätscampus. Doch für das Leben eines dreißig Jahre alten Studenten hatte Hagen nicht viel übrig.
    Auf der Bühne stieß der Erzmagier Mymanteus gerade den bösen Fluch aus, der die Greifen zum Leben erweckte. Jemand klopfte auf Hagens Rüstung.

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