Das peinlichste Jahr meines Lebens
du?«, murmelte ich.
»Ach, komm schon, Mike«, raunte er. »Hör mal, es tut mir leid. Nach dieser Stunde mach ich das wieder gut, versprochen.«
»Ruhe, da hinten«, sagte Miss Skinner, deren Augen in zwei völlig verschiedene Richtungen blickten. »Unterbrechen Sie nicht den mystischen Fluss künstlerischen Bestrebens, Mr. Beary.«
»Tut mir leid, Miss«, erwiderte Paul.
»Übrigens sehen Ihre Blumen eher wie Würste aus, Mr. Beary.«
Ich war mir nicht sicher, ob sie Pauls Bild oder meins betrachtete. Es muss sehr verwirrend sein, wenn man ständig in zwei verschiedene Richtungen schaut.
Operation Vogelauge
Nach dem Kunstunterricht führte mich Paul die Treppe runter und dann über den Schulhof zur anderen Seite der Turnhalle am Rande des Schulgeländes. Dort hält sich nur selten jemand auf, es sei denn, er will etwas tun, was er nicht tun sollte.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich. »In zwei Minuten müssen wir in Reli sein.«
»Hah«, sagte Paul, überprüfte, ob die Luft rein war, und zog mich in den schmalen Spalt zwischen der Ytongwand der Turnhalle und dem Begrenzungszaun der Schule. »Nimm dich vor den Brennnesseln in acht. Die gehen einem auf die Nerven, aber sie halten andere Leute fern.«
In der Ferne hörte ich schrilles Gelächter.
»Wie meinst du das, dass sie andere Leute fernhalten?«, fragte ich nervös, während ich mich an rasiermesserscharfen Dornenzweigen vorbeizwängte. Der Weg ist so zugewuchert, dass nicht mal die harten Kids herkommen, wenn sie rauchen wollen.
Plötzlich blieb Paul stehen und deutete auf ein kleines offenes Fenster über ihm. Ich stellte fest, dass von dort, begleitet von Dampfwolken, das Gelächter kam.
»Die Mädchenumkleide?«, fragte ich. Der Klang dieses Wortes gefiel mir gar nicht.
Paul legte mir die Hand auf die Schulter. Seine Miene war todernst. »Damit will ich mich entschuldigen. Ich habe das hier noch keinem Menschen gezeigt. Willkommen bei der Operation Vogelauge.«
»Operation Vogelauge? Was hast du vor? Fischstäbchen braten?«
Paul schüttelte den Kopf. »Sei nicht albern. Ich habe mir den Stundenplan angesehen. Der Sportunterricht der 11 . Klasse ist gerade rum, und du weißt, was das heißt …«
»Nein.«
Paul gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. »Lucy King. Sie ist da drin und zieht sich gerade an.«
»Und …«
Paul zog eine Fruchtpastille aus der Tasche und schob sie sich in den Mund. »Guck dir das mal an.«
Er griff hinter sich und zog eine Leiter zwischen den Brennnesseln hervor.
»Wo hast du die denn her?«, fragte ich.
»Aus der Bücherei«, sagte er zwinkernd. »Die hab ich letztes Jahr mitgehen lassen.«
»Letztes Jahr? Wie oft kommst du her?«
Paul zog die Nase hoch. »Ach, nicht besonders oft. Ein paar Mal am Tag. Ich hab’s in letzter Zeit eingeschränkt.«
»Eingeschränkt? Wie oft bist du denn früher hergekommen?«
Paul biss sich auf die Lippe. »Weißt du noch, wie ich letztes Jahr mal drei Tage wegen Krankheit gefehlt habe?«
Ich nickte. »Du hast gesagt, du hättest die Pest gehabt.«
»Ja«, sagte Paul und stieß mit dem Fuß ein paar Kiesel umher. »Tja, sagen wir einfach, ich war nicht krank.«
»Was? Du warst volle drei Tage hier? Wieso hast du mir das nie erzählt?« [36]
»Streng geheim«, sagte er und tippte sich an die Nase. »Du bist bloß hier, weil ich mich entschuldigen will. Und jetzt rauf mit dir.«
»Wie meinst du das?«
Paul verdrehte die Augen. »Mike, während wir hier reden, seift sich das Mädchen, auf das du stehst, gerade auf der anderen Seite dieses Fensters ein. Du musst da rauf. Die meisten Leute würden töten, um bei Operation Vogelauge dabei zu sein.«
»Aber ich nicht. Das ist ekelhaft. All die nackten Körper. Und außerdem stehe ich nicht auf sie«, zischte ich, »ich
achte
und
bewundere
sie. Übrigens sind wir hier von Miss Skinners Fenster aus zu sehen. Wir könnten erwischt werden.«
»Ach, komm schon. Die alte schielende Skinner könnte uns nicht mal sehen, wenn sie direkt vor uns stünde. Wenn du also nicht da hochsteigst, um sie zu
achten
und zu
bewundern
, dann tu ich es.«
Mit diesen Worten lehnte er die Leiter an die Wand und begann hinaufzusteigen. Ich schaute entsetzt zu, wie er oben anlangte und den Kopf durch das kleine Fenster streckte. »Perfektes Timing«, raunte er.
Aus dem Umkleideraum drang ein schriller Schrei. Plötzlich tauchte aus dem Dampf am Fenster ein Gesicht auf. Es war Brutus, der Muskelprotz – das riesige Mädchen aus dem
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