Das peinlichste Jahr meines Lebens
besten Menschen, die ich kenne, sind nicht frei. Nehmen Sie zum Beispiel Lucy, die immer trainieren musste, obwohl ihr das keinen Spaß gemacht hat. Und Miss O’Malley. Sie zerbricht sich ständig den Kopf über diesen irischen Jungen mit den Handschuhen.
Chas: Den was?
POM : Vergessen Sie’s.
[Dreisekündige Pause]
Chas: Okay. Vielleicht ein andermal. Also, kleiner Kumpel. Du öffnest dich wirklich. Miss O’Malley, dieser Junge ist etwas Besonderes.
POM : Ich wusste, dass er das Zeug dazu hat. Will jemand Saft?
Chas: Spitze, Baby. Trotzdem, Michael, ich bin nicht deiner Meinung. Nur weil ich frei bin, schade ich anderen nicht zwangsläufig. Da musst du mich widerlegen. Erklär mir, was du meinst.
MS : Menschen, die auf die Art »frei« sein wollen, die Sie meinen, lassen gewöhnlich andere leiden. Sie enttäuschen andere. Sie hindern andere daran, so zu leben, wie
sie
wollen. Meine Mum mit ihrer Nacktheit. Mein Bruder mit seinem Verhalten gegenüber Lucy. Diese blöde Freiheit ist nicht zu haben, ohne dass andere Menschen verletzt werden. Das ist nicht möglich.
Chas: Hey, hammermäßig, Mann. Da haben wir ja den Jackpot geknackt. Allmählich begreife ich, wie du tickst – yo, danke für den Saft, Big P –, und ich kapiere genau, was du sagst. Aber ich bin trotzdem nicht deiner Meinung. Nimm mich zum Beispiel. Ich fühle mich frei. Ich feiere jeden Tag Party. Ich lebe wie ein verrückter Hund. Aber weißt du was? Ich achte darauf, dass Chas niemanden enttäuscht. Das ist in Arabisch auf meiner Schulter eintätowiert: »Verletze niemanden.« Das ist so was wie ein Motto. Also sag mir: Was mache
ich
falsch?
[Achtzehnsekündige Pause]
MS : Wollen Sie das wirklich wissen?
Chas: Ja, Mann. Ich bin schon ein großer Junge. Ich kann damit umgehen.
[Fünfsekündige Pause]
MS : Okay, aber geben Sie mir nicht die Schuld. Sie gehören zur anderen Gruppe.
Chas: Zur anderen Gruppe? Welcher anderen Gruppe?
MS : Der Gruppe, die glaubt, frei zu sein, es aber nicht ist. Ich meine, warum reden Sie so?
Chas: Wie denn?
MS : Als wären Sie eine Art New Yorker Breakdancer von vor tausend Jahren. Ich will ja nicht unhöflich sein, aber Sie sind schon ziemlich alt.
Chas: Alt?
MS : Ja. Ich schätze, dass mindesten sechzig Prozent Ihres Pferdeschwanzes grau sind. Sie haben Falten um die Augen, und die Haut an Ihren Armen wird langsam schlaff. Mir fällt so was auf. Das sagt mir, dass Sie schon ein bisschen alt sind.
[Dreißigsekündige Pause]
Chas: Was meinst du mit alt? So alt wie dein großer Bruder?
MS : (lacht)
[Einminütige Pause]
Chas: So alt wie deine Mum und dein Dad?
MS : Nein. Auf keinen Fall. Die sind beide zweiundvierzig. Meine Mum wird in sechs Tagen dreiundvierzig. Sie müssen mindesten sieben Jahre älter sein.
[Zweiminütige Pause]
Hören Sie, tut mir leid, dass mir Ihr Alter aufgefallen ist.
Chas: Mikey, ist doch kein Problem. Ich stimme dir völlig zu.
MS : Sie glauben, dass Sie durch Ihre Kleidung und Ihre Sprechweise frei sind. Aber wissen Sie was? Ich frage mich, warum sich ein Fünfzigjähriger …
Chas: Neunundvierzig.
MS : … ein Neunundvierzigjähriger kleidet wie der Opa irgendeines Graffitikünstlers. Ich meine, Sie versuchen sich so zu verhalten, als wären Sie frei und locker und cool, aber das kann doch nicht natürlich sein, oder? Sie können nicht wirklich frei sein. Sie sind offenbar von dem Wunsch beherrscht, wieder jung zu sein.
[Zwölfsekündige Pause]
Chas: So bin ich nun mal …
[Fünfsekündige Pause]
… Kumpel.
MS : Wirklich? Stimmt das? Ich meine, schauen Sie, da brauchen Sie nicht zu weinen.
Chas: Ich weine nicht. Red weiter, Mann. Ich hab ein Geschwür in der Tränendrüse. Das hab ich schon seit meiner Kindheit. Null Problemo.
MS : Okay, gut. Sie geben sich solche Mühe, sich selbst zu spielen, dass Sie letztlich jemand anderes sind. Ich meine, Sie wären mir viel sympathischer, wenn Sie sich einfach Ihrem Alter gemäß verhalten würden.
Chas: Wirklich?
[Zehnsekündige Pause]
Wirklich?
MS : Klar.
[Dreißigsekündige Pause. POM reicht Chas ein Papiertaschentuch und tätschelt ihm den Rücken.]
POM : Stellen wir das Aufnahmegerät aus. Uups. Nein. Falsche Taste. Diese verdammten Wurstfinger. Michael, kannst du für mich die Stopptaste drücken?
[Ende der Abschrift]
Mitleid mit Chas
Als das Aufnahmegerät ausgeschaltet war, umarmte Miss O’Malley Chas und tätschelte ihm den Rücken, und er machte plötzlich Geräusche wie ein krankes
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