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Das peinlichste Jahr meines Lebens

Das peinlichste Jahr meines Lebens

Titel: Das peinlichste Jahr meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lowery
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blickte mich überall nach Lucy um, konnte sie aber nirgends entdecken.
    Um drei Minuten nach eins ertönte eine Fanfare, und ein sehr dicker französisch aussehender Mann mit einer großen Goldkette um den Hals kam an den Beckenrand gewatschelt. [67] Vermutlich war er der Bürgermeister von Prestons Partnerstadt. Hinter ihm kam eine lange Reihe französischer Schwimmer hereingeströmt, die in Richtung Galerie winkten, von wo aus ihnen die ganzen Eltern zujubelten.
    Der Bürgermeister von Preston begab sich zu seinem französischen Amtskollegen und schüttelte ihm die Hand. Sie tauschten Fahnen aus, stellten sich für Fotos in Pose, und dann ergriff unser Bürgermeister ein Mikrofon und hielt eine weitschweifige Rede. Die Hauptpunkte waren:
    Die Preston-Gilde (wie bereits erwähnt geht es dabei um das Recht, in der Stadt einen Markt abzuhalten) ist etwas Besonderes. Offensichtlich.
Wir begrüßen unsere Freunde aus Frankreich zu diesem sportlichen Wettkampf.
Wir freuen uns alle darauf, großartige Leistungen zu sehen.
    Die Rede hätte nur fünfzehn Sekunden dauern müssen, zog sich aber letztlich über zwölf Minuten hin. Danach posierte er für ein paar Fotos, und dann erklärte der französische Bürgermeister »das Fäste« für eröffnet.
    Ich war noch nicht auf vielen Schwimmfesten und gehöre normalerweise auch nicht zum Team. Aber ich war schon bei ein paar Vereinsmeisterschaften dabei, weil daran alle Mitglieder teilnehmen müssen (sogar jemand, der vor seinem Wettkampf vom Startblock fällt). Jedenfalls weiß ich über Schwimmfeste, dass sie langweilig sind. Man springt ins Wasser. Man schwimmt rauf und runter. Einer gewinnt. Alle anderen nicht. Dann kommt der nächste Wettkampf. Stundenlang dasselbe.
    Ich nahm nur an einem einzigen Wettkampf teil. Das waren die 50  m Freistil der männlichen Jugend. Und das nicht etwa, weil ich im Freistil gut bin, sondern weil ich nicht ganz so schlecht bin wie in den anderen Stilarten. Im Veranstaltungsprogramm stand, dass ich ziemlich spät drankam, direkt nach Lucys erstem Wettkampf. Nach drei Wettkämpfen war mein Hintern schon ganz taub, und ich hatte die Nase gestrichen voll.
    Nach anderthalb Stunden schreckte ich plötzlich hoch. Der Sprecher rief die Teilnehmerinnen über 50  m Schmetterling in der offenen Altersklasse zu den Startblöcken.
    Das war Lucys erster Wettkampf.
    Ich blickte mich nach ihr um. Brutus, der Muskelprotz, und ein paar französische Mädchen reihten sich hinter den Startblöcken auf, zogen ihre Bademäntel aus, rückten die Schwimmbrillen zurecht, schüttelten Arme und Beine aus und hoben die Hand, als ihr Name durchgesagt wurde.
    »Und auf Bahn vier«, sagte der Sprecher, »Lucy King.«
    Stille. Sie war nicht da.
    »Lucy King«, wiederholte er.
    Dave King tigerte am Beckenrand auf und ab. Er flüsterte dem Sprecher etwas ins Ohr, und dieser sagte: »Kann Lucy King bitte zu den Startblöcken kommen?«
    Plötzlich erhob sich ringsum ein Stimmengewirr. Sie war nicht da. Lucy King, der Stolz des Preston Piranhas Swimming Club, war nicht erschienen. Ich schluckte. Das war nicht gut.
    Der Sprecher wiederholte sich. Dave brach seinen Stift entzwei. Das Geschnatter der Zuschauer wurde lauter.
    Und dann kam Lucy aus dem Umkleideraum. Mein Herz flatterte. Das Geschnatter verwandelte sich in Beifall.
    Lucy zeigte keine Reaktion.
    Sie ging an den ganzen Schwimmern vorbei, ohne sie anzusehen. Ihr Gesicht war kreidebleich, mit roten Flecken gesprenkelt, und die Ringe unter ihren Augen waren so dunkel, dass man kaum erkennen konnte, welches von beiden den Bilderrahmen abgekriegt hatte. Ihre Badekappe saß schief, und ihren Bademantel schleifte sie hinter sich her.
    Sie. Sah. Furchtbar. Aus.
    Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas schreiben könnte, aber es stimmte. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan und ununterbrochen geweint. Ihr Dad wollte etwas sagen, doch sie stieg, ohne ihm Beachtung zu schenken, auf ihren Startblock und ließ ihren Bademantel geistesabwesend zu Boden fallen.
    »Auf die Plätze …«
    Die Schwimmerinnen spannten sich an.
    »Peng!«
    Sie sprangen ins Becken, glitten durchs Wasser und tauchten nach zehn Metern wieder auf. Mit den Armen kaum ein Platschen auslösend, pflügten sie die erste Bahn entlang. Bei der Wende hatte Lucy eine halbe Länge Vorsprung. Durch die elegante Abstoßbewegung vergrößerte sich ihr Vorsprung auf zwei Meter.
    »Weiter, Lucy!«, rief ich, während der Lärm im

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