Das Perlenmaedchen
Pac Kinnich mich gefangen nahm«, hob Ixchel mit leiser Stimme an. Wie sie diesen beiden jungen Menschen helfen konnte, wusste sie selbst nicht so recht. Sie hatte keine Ahnung, wo Pac Kinnich seine Fallen ausgehoben hatte. »Als er mich gefangen nahm, steckte er mich in die Höhle, aus der es kein Entkommen gab. Und tagtäglich kam er zu der Öffnung in der Kuppel und fragte mich, wo ich das heilige Buch versteckt hätte. Er ließ Essen für mich hinunter und Kleidung. Er wollte, dass ich in diesem Grab und so lange wie möglich am Leben bleibe. Bis er dann irgendwann nicht mehr kam und ich nichts mehr von ihm hörte. Das war vor vielen, vielen Jahren.«
»Ehrwürdige Ixchel«, sagte H’meen behutsam. »Erzählt Tonina und Chac den ersten Teil Eurer Geschichte. Ehe Pac Kinnich Euch gefangen nahm.«
»Da sich meine Familie weigerte, König Pac Kinnich unser heiliges Buch auszuhändigen, erschlug er meine Eltern und meine Schwestern. Cheveyo und ich versteckten das heilige Buch im Zeittempel, anschließend flohen wir. Aber wir wurden voneinander getrennt. Ich weiß nicht, wohin Cheveyo verschwunden ist. Pac Kinnich nahm die Verfolgung nach mir auf. Ich floh zusammen mit ein paar getreuen Freunden, erst nach Osten, dann in nördlicher Richtung, immer weiter, bis ich zu einem großen Meer gelangte.«
Tonina tauschte mit H’meen einen Blick und fragte sich unversehens, wohin diese Geschichte führen würde.
»Ich hatte ein kleines Baby«, fuhr Ixchel fort und wiederholte, was sie bereits H’meen erzählt hatte. »Ich wusste, dass Pac Kinnich, wenn er uns erwischte, mein Kind als Druckmittel verwenden würde, um von mir zu erfahren, wo sich das Buch befand. Ich floh nach Nordosten, zu dem legendären Ort, von dem aus, wie es heißt, der große Gott Quetzalcoatl auf seinem Schlangenfloß über das östliche Meer aufbrach. Aus Schilf flocht ich einen kleinen Behälter – ich stamme nämlich aus einer Familie von Korbflechtern –, und darin setzte ich meine Tochter auf dem Meer aus und betete, dass die Gezeiten, die Winde und die Strömungen sie zu dem Land tragen mögen, in dem Quetzalcoatl sich aufhielt, in der Hoffnung, er würde sie in seine Obhut nehmen und eines Tages zu mir zurückbringen.«
Tonina keuchte auf, griff sich mit der Hand an die Brust.
Als Ixchel sie ansah, wurde H’meen blitzartig klar, was sie an der alten Frau verstört hatte. Wenn Ixchel sprach oder lächelte, entblößte sie zwei lückenlose Reihen gesunder Zähne. Wie war das möglich? Und dann ging H’meen ein Licht auf: Ixchel war nicht so alt wie alle angenommen hatten.
»Ehrwürdige Ixchel«, sagte H’meen, »wie viele Jahre zähltet Ihr, als Pac Kinnich Euch unter die Erde verbannte?«
»Ich stand in meinem neunzehnten Sommer.«
»Und in welchem Jahr wurdet Ihr von Pac Kinnich eingesperrt?«
»Das war im Jahr der Fünf Hurrikane.«
»Ehrwürdige Ixchel, Ihr seid nicht so alt wie Ihr denkt. Das Jahr der Fünf Hurrikane liegt einundzwanzig Jahre zurück, und das bedeutet, dass Ihr erst vierzig seid.«
»Großer Lokono!«, wisperte Tonina.
»Unmöglich«, sagte Ixchel.
»Ich erinnere mich an jenes Jahr«, meinte Chac, der ahnte, dass eine große Enthüllung in der Luft lag, »und an diese fünf Hurrikane, fünf nacheinander. Alle glaubten, die Welt ginge unter. Ich war damals sieben, also war das vor einundzwanzig Jahren.«
Ungläubig schüttelte Ixchel den Kopf. »Wie kann das sein? Habe ich in der Höhle jegliches Zeitgefühl verloren? Für mich schienen so viele Jahre zu vergehen, aber es waren wohl weniger als ich glaubte.« Auf einmal durchfuhr sie ein Gedanke. Wenn sie wirklich um einiges jünger war als angenommen, konnte es dann nicht sein, dass ihr geliebter Cheveyo auch noch am Leben war?
»Ich glaube«, mutmaßte H’meen und wartete eigentlich darauf, dass Tonina etwas sagte, »dass der lange Aufenthalt in der Dunkelheit und die Nahrung, die fast ohne Sonne gewachsen war, Euren Alterungsprozess genauso wie damals bei mir beschleunigt hat.«
Ixchels Gedanken kreisten jetzt nur um einen Punkt. »Als Pac Kinnich mich in die Höhle einsperrte, sagte ich ihm, dass Cheveyo mich bestimmt finden würde. Daraufhin erwiderte er, er habe Cheveyo ein blutgetränktes Kleid von mir gezeigt und ihm gesagt, ich sei tot. Cheveyo muss ihm das geglaubt und Palenque verlassen haben. Denn hätte mich Cheveyo noch am Leben gewähnt, wäre er auf die Suche nach mir gegangen, bis er mich gefunden hätte.«
Als sie merkte, wie ihre
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