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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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bemalen. Chac kannte niemanden, der derart penibel auf Sauberkeit bedacht war. Wahrscheinlich rührte das daher, so seine Mutmaßung, dass sie ihr halbes Leben im Meer zugebracht hatte.
    »Lass mich allein weiterziehen.« Tonina fügte langsam die neu erworbenen Maya-Wörter zusammen. »Damit ist deine Verpflichtung, mir das Leben zu retten, vorbei.«
    Chac wusste weder ein noch aus. Er spürte ihre Haut, ihre Schultern, war verwirrt, weil er nicht genau sagen konnte, warum er ihren Spuren gefolgt war. Weil die Götter bestimmt haben, dass wir zusammenbleiben, redete er sich ein. Andererseits war nicht zu leugnen, dass er, als er aufgewacht war und gemerkt hatte, dass sie weg war, einen Stich in der Magengegend verspürt hatte, unerwartet und undefinierbar. Sie war ihm lästig, irritierte ihn, er wäre sie gern losgewesen. Aber dennoch empfand er ein heftiges Bedürfnis, sie um sich zu haben. Ein Bedürfnis, dem nachzukommen ihm mehr bedeutete als jedes göttliche oder menschliche Gesetz.
    »Es liegt nicht in deiner Macht, mich freizugeben«, raunte er schließlich mit belegter Stimme. »Das steht allein den Göttern zu.« Als sie die Stirn krauste und er merkte, dass sie ihn nicht verstanden hatte, wiederholte er seine Worte langsamer, eindringlicher. Sie hatte sich seine Sprache rasch angeeignet, wenngleich es noch an Umsetzung mangelte.
    »Du musst mit zurückkommen«, sagte er. »Wir sind durch ein uraltes Gesetz aneinandergekettet. Ich kann nicht nach Teotihuacán gehen, bevor ich nicht diesem Gesetz Genüge getan habe.« Als Tonina zu seinem Gesicht aufschaute, durchzuckte sie der Gedanke, dass trotz der mannigfachen Unterschiede – ob im Hinblick auf die Götter, die Sprache oder Gebräuche – Chac und sie sich in einem Punkt glichen: Jeder hatte ein Versprechen zu erfüllen, ein Versprechen, das sie einhalten mussten, wie schwer ihnen das auch fallen mochte.
    Deshalb sann sie über eine andere Möglichkeit nach, ihn abzuschütteln. »Diese Menschenmenge … «, sie suchte nach dem richtigen Wort, » … hält mich auf.«
    Er zog eine Braue hoch. »Es ist bestimmt leichter, deine Blume zu finden, wenn viele mithelfen.«
    »Sie helfen nicht mit. Sie machen mir Angst!«
    »Angst? Dir?«
    »Was meinst du, was sie tun werden, wenn wir die Blume finden? Diese Leute sind … « Sie verwünschte die Sprachbarriere zwischen ihnen. »Sie sind verzweifelt. Sie werden sich wegen der Blume gegenseitig zerfleischen!«
    Seine dicken schwarzen Brauen schoben sich zusammen. »Jetzt übertreibst du aber.«
    »Die Starken stehlen den Schwachen doch jetzt schon die Nahrung.«
    Chac blinzelte. »Was sagst du da?«
    »Manche bekommen überhaupt nichts zu essen.«
    Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. »Warum wird so etwas zugelassen?«
    »Zugelassen! Wer soll sie denn daran hindern?«
    Chac starrte sie an. Wie konnte es sein, dass manche nichts zu essen hatten? In Mayapán hatte jeder genug zu essen. Aber wenn er es recht bedachte, wusste er gar nicht, wie die Unterschicht lebte. Er hatte einfach angenommen, dass Seine Großherzige Güte dafür sorgte, dass die Bäuche aller seiner Untertanen gefüllt wurden. »Probleme mit dem Essen sind kein Grund, wegzulaufen«, sagte er. »Dagegen lässt sich doch einschreiten.«
    Er hielt sie noch immer fest, stand so nahe bei ihr, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spürte. Ganz plötzlich konnte Tonina nicht anders als ihn fragen: »Warum hasst du mich?«
    Er wölbte die Brauen. »Dich hassen?«, sagte er leise.
    »Wie du mich im Brunnenschacht angeschaut hast. Du bist wütend auf mich, weil ich dir das Leben gerettet habe.«
    Er starrte sie lange an. Ja, er war auf sie wütend, aber nicht, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Zum ersten Mal seit der furchtbaren Nacht wurde ihm hier im Wald schlagartig etwas bewusst: Ich nehme ihr übel, dass sie dabei war, als Paluma starb, und ich nicht. Das kann ich ihr nicht verzeihen.
    Nein, überlegte er, ich kann es mir nicht verzeihen.
    Sie schaute zu ihm auf. »Bitte lass mich gehen«, flüsterte sie erneut.
    Verwirrt blickte er sie an. Am liebsten hätte er das zu ihm erhobene Antlitz mit den Händen umfasst und sanft die weiße Farbe weggewischt, um das Gesicht zu sehen, das sich darunter verbarg. »Ich kann nicht«, sagte er.
    »Ich bin weit weg von zu Hause, von meinem Volk und meinen Göttern. Ich bin ganz allein.«
    Ihre Tränen verblüfften ihn. Dieses Inselmädchen war so stark und unabhängig, so entschlossen, ihren Weg zu gehen,

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