Das Pestkind: Roman (German Edition)
kreieren.
Milli hob eine ihrer fertigen Ketten bewundernd in die Höhe.
»Und da frage ich mich, warum ich alte Frau mir so viel Arbeit mache, wenn mir so eine großartige Künstlerin zur Hand geht.«
»Künstlerin?«
Die beiden Frauen drehten sich um. Albert kletterte in den Schutz des Wagens. Er war völlig durchnässt und außer Atem, was ihn aber nicht daran hinderte, Marianne einen Kuss auf die Wange zu geben. Danach strahlte er wie ein kleiner Lausejunge, der etwas ausgefressen hatte.
Marianne errötete und blickte zu Boden. Milli lachte laut auf.
»Ja, eine Künstlerin ist sie. Sieh nur, welch hübsche Ketten sie für mich gemacht hat.«
Anerkennend musterte Albert, der eigentlich anderen Schmuck gewohnt war, die einfache Arbeit und wischte sich mit dem Ärmel den Regen aus dem Gesicht.
»Ich habe Neuigkeiten zu berichten.« Auf Alberts Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Mein Bruder hat beschlossen, nur noch wenige Tage weiterzuziehen. In der Nähe von Landshut werden wir für längere Zeit unser Lager aufschlagen. Er hat es satt, Raubzüge durchzuführen, und möchte sich dort eine Weile zur Ruhe setzen. Auch Anna Margarethe zuliebe, für die die Reise so kurz vor der Niederkunft immer beschwerlicher wird, denn er hofft auf einen gesunden Sohn und Erben.«
Er sah Marianne von der Seite an.
»Und vielleicht bleibt dann sogar die Zeit, um den Bund fürs Leben zu schließen.« Schüchtern griff er nach ihrer Hand. Marianne sah ihn verwundert an. Heiraten? Hier draußen, im Nirgendwo und ohne Kirche!
Er erriet ihre Gedanken.
»Es ist nicht ungewöhnlich, im Tross zu heiraten. Mein Bruder und Anna Margarethe sind ebenfalls auf diese Art und Weise getraut worden.« Er nickte ihr aufmunternd zu.
»Du wirst schon sehen, bestimmt wird es ein wunderbares Fest.«
Marianne versuchte zu lächeln, obwohl ihr nicht danach zumute war. Immer noch war sie wegen Helene traurig, und durch das schreckliche Ereignis hatte sich auch Anderl wieder in ihre Gedanken geschlichen.
Niemals hatte sie zu hoffen gewagt, jemals zu heiraten. Sie wusste, dass sie großes Glück hatte, und mochte Albert inzwischen sehr. Es kribbelte immer so schön in ihrem Bauch, wenn er auftauchte, und seine Lippen waren warm und weich. Allerdings war er nur sehr selten bei ihr. Meistens war er mit dem Regiment und seinem Bruder unterwegs und verwüstete und plünderte Dörfer, während sie im Tross hinter ihm herzog.
Die Vorstellung, dass Albert unschuldige Menschen erschlug, vielleicht sogar Kinder tötete, hatte sie weit von sich geschoben.
Milli richtete sich auf.
»Das sind aber gute Neuigkeiten, die wir begießen sollten.«
Sie begann im hinteren Teil des Wagens herumzuwühlen und zauberte drei Becher und eine Flasche Wein hervor.
Die Augen der Marketenderin leuchteten vor Aufregung und Freude.
»Wenn wir länger irgendwo bleiben, dann ist das gut fürs Geschäft.«
Sie lächelte Marianne übermütig an und hob ihren Becher.
»Und du, mein Kind, wirst die schönste Braut, die das Lager jemals gesehen hat.«
Einige Stunden später lag Marianne auf ihrem Strohlager und lauschte den Atemzügen der Mädchen. Eleonore schnarchte und schmatzte im Schlaf. Es regnete nicht mehr, und die Grillen hatten mit ihrem allabendlichen Konzert begonnen. Inzwischen war es Mitte August, der Sommer neigte sich bereits dem Ende zu, und abends wurde es wieder früher dunkel. Marianne konnte es allmählich genießen, aus Rosenheim fort zu sein. Sie hatte Freunde gefunden, würde heiraten und wurde nicht als Pestkind verspottet, gegängelt und gemieden. Ihr Glück wäre vollkommen, wenn nicht der Verlust von Anderl wäre. Wie immer, wenn sie an ihn dachte, legte sie ihren Arm neben sich, dorthin, wo er immer gelegen hatte. Sie schloss die Augen und stellte sich seine warme Haut vor. Diese Vorstellung half ihr eigentlich immer beim Einschlafen, doch heute funktionierte es nicht. Irgendwann stand sie auf, ging zum Zeltausgang und trat in die milde Sommernacht hinaus. Leise schlich sie, nur mit ihrem Hemd bekleidet, durch die Zeltreihen. Sie wusste nicht genau, wohin sie wollte. Noch vor kurzem wäre sie an den Fluss gelaufen, doch der war jetzt zu weit entfernt. Irgendwann erreichte sie das Ufer eines kleinen Bachlaufs. Es war Vollmond, das fahle Licht schimmerte im fließenden Wasser, das sich seinen Weg durch ein steiniges Kiesbett bahnte. Sie setzte sich ans Ufer, zog das Hemd über ihre nackten Füße, schloss die Augen und genoss es, allein
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