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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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ihn jedes Mal anklagend anblickten und von der Hoffnung erzählten, die der Junge schon lange verloren hatte. Heute war Prozesstag. Wie sehr hatte er sich vor diesem Tag gefürchtet, denn jede Aussicht, Anderl zu retten, war verflogen.
    »Wir müssen langsam los«, sagte Pater Johannes, der ihn begleitet hatte. Wortlos hatte er sich heute Morgen Pater Franz angeschlossen, und sie waren im kalten Nieselregen nach Rosenheim gelaufen. Der Abt war Johannes unsagbar dankbar für seinen Beistand, denn allein hätte er diesen Tag niemals durchgestanden.
    Er nickte seufzend.
    »Ja, ich weiß.«
    Sie hörten schwere Schritte auf dem Flur. Die Wachposten kamen, um den Jungen zu holen.
    Karl warf den beiden Mönchen einen grimmigen Blick zu und griff grob nach Anderls Armen, bog sie auf den Rücken und fesselte ihm die Handgelenke. Anderl verzog das Gesicht.
    »Muss das denn sein?«, fragte Pater Johannes. »Der Junge ist krank, kann kaum noch stehen. Wo soll er denn, in Gottes Namen, hin?«
    »Ich habe die Regeln nicht gemacht«, schnauzte Karl und führte Anderl aus dem Raum.
    Kopfschüttelnd folgten ihm die beiden Mönche.
    Vor dem Gerichtsgebäude standen viele Schaulustige. Manche hatten verfaultes Gemüse mitgebracht und bewarfen Anderl damit.
    »Mörder!«, riefen viele. »Wie kann man nur seine eigene Mutter töten?«, klagten andere an. »Er war schon immer sonderbar, genauso wie seine Schwester, dieses Pestkind.«
    »Der Junge war noch nie ganz richtig im Kopf. So etwas musste ja passieren«, keifte ein weiteres Weib.
    Der Abt blickte zu Boden und versuchte, die Menge zu ignorieren. Was wussten die Leute schon. Sie sahen in Anderl nur den dummen Jungen, den Außenseiter, den sie nicht verstanden. Mit gefalteten Händen lief er hinter seinem Schützling her und murmelte ein Gebet.
    Später im Gerichtssaal beobachtete er wehmütig, wie Anderl auf die Anklagebank gesetzt wurde. Traurig wurde er sich der Tatsache bewusst, niemals wirklich zu dem Jungen durchgedrungen zu sein. Der einzige Mensch, der Anderl verstanden hatte, war Marianne, und die würde nie wieder kommen, durch seine Schuld.
    Pater Johannes setzte sich neben ihn, ließ seinen Blick durch den Saal schweifen und musterte Anderl, der so aussah, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden.
    Tröstend strich er seinem Freund über den Arm.
    »Der Prozess wird schnell vorüber sein.«
    Die Augen des Abtes ruhten auf dem Jungen.
    »Danach fängt es doch erst an. Ich werde mir das nie verzeihen.«
    »Du kannst nichts dafür«, erwiderte Johannes. »Es ist Schicksal.«
    Pater Franz atmete tief durch und dachte plötzlich an Pauls Worte. Es wäre gut, wenn er auf sein Herz hören und einfach Dinge tun könnte, ohne Verantwortung tragen zu müssen.
    Der Richter betrat den Raum. Die Anwesenden erhoben sich. Jetzt galt es, stark zu sein.
    *
    Milde Luft vertrieb wenige Tage später die dunklen Wolken, und plötzlich hatte man das Gefühl, der Frühling würde dieses Jahr dem Winter einen Streich spielen und ihn nicht zum Zug kommen lassen. Das schöne Wetter konnte Pater Franz allerdings nicht fröhlich stimmen. Er trat mit ernster Miene aus der Nikolauskirche, in der gerade der Trauergottesdienst für Paul, den Färber, stattgefunden hatte. Die Nachricht von seinem Tod kam nicht überraschend, traf ihn aber dennoch hart. Die halbe Stadt war gekommen, um dem beliebten Bewohner die letzte Ehre zu erweisen. Schweigend folgten sie dem Sarg, der mit Tannenzweigen, bunten Tüchern und Astern geschmückt war. Sein Sohn Hans war am Tag zuvor angekommen, hatte seinen Vater aber nicht mehr lebend angetroffen. Mit gesenktem Kopf lief der junge blonde Mann, der den herzlichen Blick des alten Färbers geerbt hatte, hinter dem Sarg her. Danach folgten viele Mitglieder der Färbergilde, die sogar aus umliegenden Dörfern angereist waren. Sie trugen die übliche, einheitliche Kleidung und hatten sich alle ein Stück schwarzes Tuch um den Oberarm gebunden. Stumm zog der Trauerzug zum Friedhof. Pater Johannes und viele weitere Mönche waren ebenfalls gekommen. In der Färbergasse hingen schwarze Stofffetzen an den Fenstern und Haustüren.
    Die Menschenmenge fand auf dem Friedhof kaum Platz. Die Mönche versammelten sich abseits und verfolgten schweigend die Beerdigung, lauschten den Worten des Pfarrers, der noch einmal das Leben des Toten in Erinnerung rief und seine Mildtätigkeit lobte. Pater Franz gingen Pauls Worte nicht mehr aus dem Kopf. Seit Tagen grübelte er, ob er mit

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