Das Pestkind: Roman (German Edition)
Johannes darüber sprechen sollte. Nach der Gerichtsverhandlung, in der Anderl zum Tod durch den Strang verurteilt worden war, hatte er kaum noch mit seinem Freund geredet. Zu schlimm waren die Eindrücke des Tages gewesen. Anderl hatte gefasst reagiert und keine Miene verzogen. Niemand würde mehr zu ihm durchdringen.
Seufzend reihte sich der Abt in die lange Reihe der Angehörigen ein, die dem Toten die letzte Ehre erwiesen. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, Wind fegte über die Gräber und wirbelte den Staub auf den Wegen auf. Als ob Paul noch einmal zeigen wollte, dass er etwas Besonderes gewesen war, dachte der Abt und blickte lächelnd in den blauen Himmel. Der alte Färber verwandelte einen Wintertag in Frühling, spendete ein letztes Mal das Gefühl von Hoffnung und schenkte ihnen für einen Moment ein wenig Wärme.
»Ruhe in Frieden«, flüsterte der Abt leise, als er vor dem Grab stand und eine Handvoll Erde hineinwarf.
Später liefen die beiden Mönche schweigend über den Marktplatz und durchs Münchener Tor. Über dem freien Feld tobte der warme Wind und riss ihre Umhänge in die Höhe. Aufziehende Wolken versuchten, gegen den Sturm anzukämpfen, und schoben sich an die Berge heran. Pater Johannes blickte sorgenvoll zum Himmel.
»Es wird eine stürmische Nacht werden. Vielleicht gibt es sogar ein Gewitter.«
»Vielleicht«, antwortete Pater Franz.
Johannes blieb stehen und sah seinen Freund missbilligend an.
»So kann es nicht weitergehen.«
Verwundert drehte sich der Abt um.
»Wie, was meinst du denn?«
»Na, mit dir. Ich kann deinen Trübsinn nicht mehr ertragen. Wir alle können die Dinge nicht ändern, und auch ich bin traurig. Anderl wird bald bei Gott sein, und wahrscheinlich ist dort der beste Platz für den Jungen. Ich habe es satt, dich jeden Tag so still und traurig zu erleben. Ich möchte meinen Abt und Freund wiederhaben, den Menschen, den ich kenne, und nicht diese leblose Hülle.«
Pater Franz sah seinen Freund verwundert an. So hatte er ihn noch nie erlebt.
»Ich …«
Johannes schnitt ihm das Wort ab.
»Die Sache mit Marianne hat mir auch weh getan. Aber du konntest nichts dafür. Das Schicksal hatte seine Hände im Spiel, vielleicht war es ja Gottes Wille, dass sie dem jungen Schweden begegnete. Du konntest es damals nicht ändern, genauso, wie du jetzt Anderl nicht retten kannst, Versprechen hin oder her.«
Pater Franz sah seinen Freund überrascht an. So impulsiv kannte er ihn gar nicht. Es musste einen Ausweg geben, irgendeine Möglichkeit, wie er Anderl vor dem Galgen retten konnte.
Pater Johannes sah ihn abwartend an.
»Ich kann nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.« Der Abt seufzte. »Es ist grausam, ungerecht und eine Sünde. August Stanzinger ist ein Kinderschänder und machtgieriger Mensch. Er darf nicht gewinnen. Dann geht Gott eben diesmal einen falschen Weg.«
Entgeistert sah Johannes seinen Freund an. Noch nie hatte jemand von ihnen es gewagt, Gottes Wege in Frage zu stellen.
»Gottes Wege sind oft unergründlich, wie wir wissen. Er sandte uns Kriege und Krankheiten, um uns zu prüfen. Vielleicht ist dies wieder eine Prüfung, die uns stärker machen wird.«
Franz schüttelte den Kopf.
»Ich will und werde sie aber nicht annehmen, denn ich kann es einfach nicht ertragen, den Jungen sterben zu sehen.«
Pater Johannes seufzte.
»Wir werden es nicht verhindern können.« Er legte seinem Freund beruhigend die Hand auf den Arm.
Pater Franz trat einen Schritt zurück.
»Doch, das können wir. Paul hat mich auf eine Idee gebracht.«
»Wieso Paul?«, fragte Johannes irritiert.
Sie erreichten das Kloster und traten in den Innenhof.
»Er hat mir klargemacht, dass wir mit legalen Mitteln nicht mehr weiterkommen werden. Wenn wir Anderl retten wollen, dann müssen wir ihm zur Flucht verhelfen.«
Johannes blieb stehen und starrte den Abt entsetzt an.
Pater Franz hatte mit dieser Reaktion gerechnet.
»Ich weiß, es ist nicht richtig, und wir versündigen uns. Aber immerhin für eine gute Sache. Bereits seit Tagen denke ich darüber nach und komme immer wieder zu demselben Ergebnis. Wir müssen Anderl irgendwie dort herausholen und fortbringen.«
Pater Johannes konnte nicht glauben, was er da hörte. Der Abt des Kapuzinerklosters plante tatsächlich einen Einbruch ins Stadtgefängnis. Natürlich waren seine Beweggründe nicht böser Natur, aber trotzdem konnten sie das nicht tun. Was würde geschehen, wenn sie erwischt würden? Der neue
Weitere Kostenlose Bücher