Das Pestkind: Roman (German Edition)
hatte den Jungen auf dem Gewissen. Warum hatte er ihr nicht geholfen? Er war aufgebracht gewesen, aber dafür war Toni nicht verantwortlich.
Alois trat nach vorn und begann zu sprechen:
»Liebe Kameraden, heute hat uns der Fluss wieder gezeigt, wie tückisch er sein kann. Er hat uns gelehrt, dass wir achtsamer sein müssen und uns niemals in Sicherheit wähnen dürfen. Leider hat er ein Opfer gefordert, einen jungen Burschen, unseren Toni, hat er aus dem Leben gerissen.«
Fredl, der die ganze Zeit bereits mit sich haderte, konnte und wollte diese Worte nicht akzeptieren. Er ballte die Fäuste und trat vor.
»Nicht der Fluss hat den Jungen getötet, sondern Ihr. Hättet Ihr dieses Weibsbild« – er deutete auf Marianne – »nicht an Bord gelassen, dann würde Toni jetzt noch leben. Erzürnt habt Ihr den Flussgott, Euch hinweggesetzt über seine Regeln.«
Viele der Umstehenden begannen zu nicken. Leises Murmeln setzte ein, und so manch einer warf Marianne wütende Blicke zu.
»Wir wollen jetzt nicht streiten«, versuchte Alois, die Leute zu beruhigen. »Wir wollen in Frieden von Toni Abschied nehmen, und danach werden wir weitersehen.«
Doch die Männer ließen sich nicht beruhigen.
»Ich denke, Fredl hat recht«, mischte sich jetzt auch Wilhelm ein. »Wahrscheinlich hat der Flussgott Toni ausgewählt, weil er sie gefunden hat, das wäre doch möglich.«
Er blickte in die Runde, erneut nickten viele. Marianne zog sich immer weiter zurück, doch fortlaufen wollte sie nicht. Ihre Neugierde war stärker.
Alois hob beschwichtigend die Hände.
»Diese Behauptung ist erstunken und erlogen, Wilhelm. Es war ein unglücklicher Zufall, dass es Toni getroffen hat.«
»Aber Frauen an Bord bringen Unglück«, riefen jetzt auch andere.
Wilhelm trat nun ebenfalls nach vorn. Seine Stimme wurde lauter. Bereits seit einiger Zeit versuchte er, an Alois’ Stuhl zu sägen, denn er wäre gern Schiffsmeister geworden, und dieser Vorfall kam ihm gerade recht.
»Wäre Fredl nicht rechtzeitig gekommen, hätte sie den Flussgott noch mehr erzürnt, denn sie wollte ihm sein Opfer wieder entreißen.«
Wieder nickten viele. Manche klatschten sogar Beifall.
Alois wurde wütend. Er wusste, er hatte einen Fehler gemacht. Niemals hätte er Marianne Fredl anvertrauen dürfen. Der Fluss war schon immer von den Naturgewalten geprägt, und mit einem Gott, der das Wasser lenkte, hatte der Vorfall nichts zu tun. Doch wie sollte er das diesen Männern beibringen, in deren Köpfen dieser Aberglaube fest verankert war.
Er trat die Flucht nach vorn an.
»Gut, ich habe einen Fehler gemacht. Sie hätte nicht auf eines der Schiffe kommen sollen, aber wir dürfen nicht vergessen, wer wir sind. Wir sind eine Bruderschaft, die Menschen in Not hilft, die zusammenhält und jede Schwierigkeit meistert. Wenn Toni jetzt noch hier wäre« – er deutete auf den Fluss hinaus –, »dann würde er mir zustimmen, da bin ich mir sicher. Der Flussgott hat sein Opfer bekommen, und ich werde ihn nicht weiter erzürnen. Doch deshalb werde ich meinen Glauben an das Gute nicht aufgeben, und ich hoffe, dass ihr alle genauso denkt. Diese junge Frau braucht Hilfe. Sie war allein und schutzlos allen Widrigkeiten ausgeliefert und hat für uns alle bei den Schweden ihren Kopf hingehalten.«
Marianne riss verwundert die Augen auf. Woher wusste Alois davon? Sie hatte ihm nichts erzählt.
Die Männer blickten zu Boden.
»Und du, lieber Fredl« – er deutete auf den alten Mann –, »solltest dich was schämen, unseren Gast so zu behandeln. Wahrscheinlich wäre es gar nicht erst zu dem Unfall gekommen, wenn du nicht so schäbig mit ihr umgegangen wärst.«
Fredl blickte beschämt zu Boden. Seine Wut verrauchte, und die Trauer über den Verlust des Jungen, den er sehr gern gehabt hatte, gewann die Oberhand.
Alois trat auf Marianne zu und reichte ihr die Hand.
»Es tut mir leid, Marianne. Ich verspreche dir: Von nun an wird jeder dich achten und dir den Respekt entgegenbringen, den du verdienst.«
Marianne deutete ein Nicken an. Einige der Männer klatschten.
»Es lebe unser Schiffsmeister«, rief einer, und die anderen stimmten ein. »Ja, hoch soll er leben«, riefen sie und warfen ihre Hüte in die Höhe. Alois lächelte Marianne zu.
Er hatte die Schlacht gewonnen.
Später saßen Marianne und Alois nebeneinander am Lagerfeuer. Marianne hatte einen Becher warmen Würzwein in den Händen und blickte in die Flammen. Heute Abend spielte niemand lustige
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