Das Pestkind: Roman (German Edition)
Donnerschlag ließ das Boot erzittern. Marianne zuckte zusammen.
»Ich glaube, es ist eher der Wettergott, der uns nicht wohlgesinnt ist.« Sie blickte sich unsicher um. Sie hörte die Wellen gegen das Holz schlagen und die ersten Regentropfen aufs Dach prasseln. Plötzlich drang ein lauter Schrei an ihr Ohr.
»Das ist Toni!«, rief Marianne. Ein erneuter Donnerschlag erschütterte das Boot. »Ich muss zu ihm.«
Sie hangelte sich zum Ausgang und trat auf das schwankende Heck. Toni klammerte sich an seinem Ruder fest. Er hatte die Kontrolle über das Boot verloren. Es schüttete wie aus Kübeln, und die Wellen des Flusses schwappten über die Reling.
»Toni!«, rief Marianne. »Ich komme, gleich bin ich bei dir!«
Dem Jungen stand die nackte Panik in den Augen. Marianne kroch auf allen vieren über das Deck. Immer wieder wurde sie von Wellen überspült, das kalte Wasser des Flusses raubte ihr den Atem. Als sie das Ruder endlich erreichte, hing Toni schon zur Hälfte im Wasser. Mit letzter Kraft klammerte er sich fest. Ein erneuter Donnerschlag ließ Marianne zusammenzucken. Das Boot schlingerte nach rechts, Toni wurde herumgeschleudert, verlor den Halt und ließ los. Laut kreischend stürzte er ins Wasser. Marianne erschrak. Schnell hastete sie zur Reling und versuchte, seine Hand zu packen, was ihr auch gelang.
»Ich hab dich. Halt dich fest! Nicht loslassen!«
Doch plötzlich schlug jemand auf ihren Arm, und sie ließ los. Toni riss erschrocken die Augen auf und verschwand in dem aufgewühlten Wasser.
»Der Flussgott, ich habe es gesagt. Wir haben ihn erzürnt. Rächen tut er sich an uns«, brüllte Fredl hinter ihr.
Marianne blickte fassungslos auf den Fluss. Unsagbare Wut stieg in ihr auf. Dieser abergläubische Irre hatte ihn umgebracht. Anstatt ihr zu helfen, hatte er Toni in den sicheren Tod geschickt.
Sie drehte sich um und schlug wie eine Verrückte auf den alten Mann ein.
»Ihr habt ihn getötet! Seid Ihr denn von Sinnen! Das kann kein Gott wollen, niemals!«, schrie sie verzweifelt.
Der alte Mann duckte sich zur Seite. Sein graues Hemd klebte an seinem dürren Körper, jede einzelne Rippe war zu sehen. Mit hocherhobener Hand trotzte er den Naturgewalten und deutete auf den Fluss hinaus.
»Was der Fluss einmal hat, darf ihm niemand nehmen. Du erzürnst unseren Gott mit deiner Anwesenheit, du dummes Ding! Hineinwerfen sollte ich dich, genauso opfern wie den Jungen, vielleicht lässt er sich so beruhigen.«
Marianne wich zurück. Voller Angst sah sie den alten Mann an, dem der Wahnsinn in den Augen stand. Sie klammerte sich an der Reling fest, schloss die Augen und erwartete das Schlimmste.
Doch dann drang Alois’ Stimme an ihr Ohr.
»Es reicht, Fredl!«, brüllte er laut. »Wehe, du krümmst ihr nur ein Haar!«
Das Boot war von den anderen Männern unter Kontrolle gebracht worden und wurde ans Ufer gezogen. Der Wind flaute langsam ab.
Marianne schlang verzweifelt die Arme um den Körper und blickte in das graue Wasser, während Alois und die anderen an Bord kamen.
»Er ist tot«, stammelte sie. »Einfach so untergegangen und ich hatte ihn doch schon an der Hand gepackt.«
*
Der Inn war wieder friedlich. Marianne konnte kaum glauben, dass er sich noch vor kurzem wie ein reißendes Ungeheuer gebärdet hatte.
Sie standen am Ufer, die Boote waren festgemacht worden, und die Pferde grasten auf einer nahen Lichtung. Alle schwiegen. Selbst der alte Fredl sagte kein Wort, warf ihr aber ab und an finstere Blicke zu.
Marianne stand abseits der Männer und beobachtete, wie sie von einem Kameraden Abschied nahmen. Sie fühlte sich schuldig. Wieder einmal hatte sie jemandem Unglück gebracht. Vielleicht hatte Petronella doch nicht recht, und am Ende lag es nicht an der Zeit oder dem Krieg, denn allen Menschen, die sie gernhatte, war etwas Böses zugestoßen. Und das schloss Petronella nicht aus, immerhin wäre sie beinahe als Hexe hingerichtet worden.
Alois stand zwischen seinen Männern. Er wirkte jetzt nicht wie der Schiffsmeister, der jedes Problem löste, sondern strahlte Unsicherheit aus. Marianne rieb sich fröstelnd die Hände. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, ein Feuer zu entzünden. Sie steckte noch immer in ihren nassen Sachen, Alois hatte ihr nur eine Decke über die Schultern gelegt. Gesprochen hatte er weder mit ihr noch mit Fredl. Keiner der Männer hatte viel gesagt. Ihr Schweigen hatte etwas Lähmendes an sich.
In ihr brodelten immer noch Wut und Enttäuschung. Fredl
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