Das Pestkind: Roman (German Edition)
beiden Mönche an seiner Seite. Am liebsten hätte er ihn zu sich nach Hause geholt, wo er in Sicherheit war.
Eigentlich hatte er in jener Nacht nicht den Weg zum Gefängnis einschlagen wollen, doch die Sehnsucht nach dem Jungen war stärker gewesen. Dass er dadurch Zeuge eines Ausbruchs geworden war, den er letztlich verhindert hatte, bestürzte ihn schon fast, denn inzwischen wünschte er sich, dieser wäre gelungen. Er selbst hatte Anderl des Mordes angeklagt und ihn abgeführt, wollte ihn für sich. Immer wieder hatte er sich einzureden versucht, Josef wäre für alles verantwortlich, da er ihn erpresste. Doch inzwischen war er sich darüber klargeworden, dass er sich aus dieser Lage jederzeit hätte befreien können, aber jetzt war es zu spät. Für ihn und auch für Anderl, denn sein Tod ließ sich nicht mehr verhindern.
Josef hatte recht, auch der Abt und sein Glaubensbruder mussten den Tod finden. Sie wussten zu viel über den Mord und über ihn. Seufzend strich er sich über die Stirn.
»Ich werde sehen, was ich tun kann. Der Richter scheint mir zu vertrauen. Gewiss wird er auch in dieser Angelegenheit meinen Rat anhören. Ich werde ihn später aufsuchen und mit ihm sprechen.«
Erleichtert atmete Josef auf, setzte sich neben den Büttel und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»So ist es gut. Wenn sie erst tot sind, wird alles wieder seinen geregelten Gang gehen.«
August Stanzinger blickte auf.
»Das glaubt Ihr doch nicht wirklich. Gut wird es niemals wieder sein.«
*
Eigentlich war es nicht seine Art, mit Gefangenen zu sprechen, aber diesmal würde Richter Constantin von Lichtenberg eine Ausnahme machen. Er schloss die Tür seiner Wohnung und trat auf die Straße, auf der trotz des nasskalten Wetters das rege Treiben eines Markttags herrschte. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und sanken zwischen Marktbuden und Ständen in matschige Pfützen. Es duftete nach Würzwein und gebratenen Würsten. Fröhliche Musik lockte die Menschen zu einer Aufführung von Gauklern, die vor dem Nepomuk-Brunnen dargeboten wurde. Auch er blieb davor stehen und bewunderte die Gruppe, wie sie Räder schlug, übereinanderkletterte und hohe Türme baute, nur um dann wieder fröhlich tanzend herumzuspringen. Die Männer trugen grüne Anzüge mit roten Streifen und lustige Zipfelmützen auf den Köpfen. Eine junge blonde Frau, die mit ihrem dunkelblauen Leinenkleid einen seltsamen Kontrast zu den bunten Burschen bildete, schlug eifrig das Tamburin und lief mit einem Klingelbeutel durch die Menge. Ihr blondes Haar ringelte sich um ihre runden Wangen, und ihre blauen Augen strahlten Freude und Zuversicht aus.
So ein hübsches Mädchen hatte er lange nicht mehr gesehen. Sie blieb vor ihm stehen und lächelte ihn aufmunternd an. Fasziniert griff er nach seiner Börse, ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden, und warf zwei Taler in ihren Beutel. Sie bedankte sich in einer ihm unbekannten Sprache und lief weiter. Sehnsüchtig blickte er ihr nach. Sie sah seiner verstorbenen Gattin Sybilla ähnlich, die im letzten Jahr im Kindbett gestorben war. Der Schmerz über ihren Verlust war noch immer allgegenwärtig. Er hatte sie aufrichtig geliebt und wie eine Göttin verehrt. Sein Sohn war tot zur Welt gekommen und hatte friedlich neben seiner toten Mutter gelegen, die aussah, als würde sie schlafen.
Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden, und wandte sich von der Schaustellertruppe ab. Das war Vergangenheit.
Er ging weiter. Er mochte Markttage, das bunte Treiben und die unterschiedlichen Menschen, die in die Stadt zogen. An einem Stand wurden Traumfänger, Kerzen und duftende Öle verkauft, an einem weiteren die herrlichsten Stoffe und Kleider. Stundenlang hätte er sich hier aufhalten können, aber die Pflicht rief. Er bog schweren Herzens in die Gasse ab, die zum Salzstadel führte. Mit Salz beladende Fuhrwerke kreuzten seinen Weg. In den Lagerhallen herrschte die übliche Geschäftigkeit, und auch die leichten Mädchen, die hier nach Kundschaft Ausschau hielten, waren zahlreich vertreten. Doch sie getrauten sich nicht, den Richter anzusprechen, und wichen vor ihm in die Nischen der Häuser zurück.
Constantin von Lichtenberg erreichte das Gefängnis, holte tief Luft und blieb davor stehen. Er hatte Erkundigungen über Pater Franz eingeholt. Überall in Rosenheim war der Mann beliebt und hatte sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil, die Menschen sahen in ihm einen Helden, den Mann, der
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