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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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ihre Gesetze.
    Er öffnete die Augen. Heute war erneut einer dieser Tage, an denen er nicht schlafen konnte. Es wurde hell, es wurde dunkel, er bemerkte es nicht. Die Tage vergingen einer wie der andere. Nur eines weckte in ihm noch die Lebensgeister, denn die Schritte des Mannes hörte er schon von weitem. Wenn er kam, dann wurde Anderl hellwach, und sein Herz begann wie wild zu schlagen. Hier gab es kein Entrinnen und niemanden, der ihm half. Er kam und holte sich, was er haben wollte, war grob und gemein und tat ihm weh. Sein lustvolles Stöhnen ging ihm durch und durch, und seine widerlichen Worte, die liebevoll klingen sollten, klangen wie Hohn in seinen Ohren.
    Oft aber saß auch Pater Franz bei ihm. Seine Schritte klangen anders, sanft und ruhig. Er war still und hörte nur zu, auch wenn es nichts zu reden gab. Es war schön, wenn er hier war, denn er brachte jedes Mal ein wenig von Marianne mit.
    Doch sein letzter Besuch lag eine halbe Ewigkeit zurück. Damals, in der Dunkelheit, als er tatsächlich die Hoffnung hatte, der weißen Wand und dem Büttel entfliehen zu können, vielleicht auch dem Tod.
    Seitdem war der Mönch nicht mehr gekommen. Erst jetzt, wo er fernblieb, wurde sich Anderl bewusst darüber, wie sehr er ihn vermisste.
    Er schloss die Augen. Der Schmerz über den Verlust von Marianne überkam ihn. Ihre blauen Augen, ihr Lächeln, ihre Nähe. Was würde er nicht alles dafür geben, nur noch eine Nacht neben ihr zu liegen. Sie war so warm und weich gewesen, lieb und voller Verständnis. Niemals hatte sie ihn angeschrien oder ungeduldig angesehen wie all die anderen.
    Sie war fort, mit irgendwelchen Schweden mitgegangen, ohne ihn. Sie hatte zum ersten Mal ein Versprechen gebrochen.
    Traurig blickte er auf die Strohtiere auf der Fensterbank und dem Tisch, die ihn stumm ansahen. Sie würde sie nicht holen, niemals würde sie die Tiere sehen, aber er hatte sie doch für sie gemacht. Sie musste einfach kommen, musste sie holen. Wütend sprang er auf und wischte die Tiere vom Tisch. Ohne ein Geräusch zu machen, fielen sie auf den Boden. Tief atmend blieb er vor ihnen stehen und starrte sie an. Was hatte er getan?
    Der Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt, und die Tür ging auf. Pater Franz betrat den Raum.
    Karl stand hinter ihm.
    »Ihr habt zehn Minuten.«
    Pater Franz wandte sich um.
    »Es ist seine Beichte.«
    Der Wärter zuckte mit den Schultern.
    »Das ist mir egal. So viel wird er nicht zu sagen haben. Zehn Minuten, länger nicht. Ihr könnt froh sein, dass Ihr überhaupt zu ihm dürft.«
    Die Tür schloss sich hinter dem Mönch.
    Pater Franz sah Anderl erstaunt an. Der Junge stand mitten im Raum, hatte die Hände zu Fäusten geballt und starrte auf die Strohtiere, die auf dem Boden lagen.
    »Was ist los?«, fragte er behutsam und blieb an der Tür stehen. So aufgelöst hatte er Anderl noch nie erlebt. Lange hatte er überlegt, was er zu dem Jungen sagen sollte, denn er wusste wahrscheinlich gar nicht, was ihm bevorstand. Wie sollte er ihm nur beibringen, dass die letzten Stunden seines Lebens verstrichen und heute Nachmittag alles vorbei sein würde. Gott würde ihn in sein Paradies holen, in seinen Garten Eden, in dem er alles sein konnte, vielleicht auch ein Kapitän auf seinem eigenen Schiff.
    Anderl starrte noch immer auf die Tiere. Der Abt trat näher und blieb neben ihm stehen.
    »Willst du sie nicht lieber aufheben? Sie sollten nicht auf dem Boden liegen.«
    Anderl sah den Mönch traurig an und schüttelte den Kopf.
    »Nein. Es ist doch egal, denn sie wird nicht kommen. Sie hat mich alleingelassen.«
    Er schloss die Augen und kämpfte mit seiner Verzweiflung.
    Pater Franz tat jetzt endlich das, was er schon vor langer Zeit hätte tun sollen. Er nahm den Jungen in den Arm und drückte ihn fest an sich. Anderls Anspannung ließ nach. Er ließ sich in die Umarmung fallen und begann laut zu schluchzen, weinte bitterlich. Schweigend strich ihm der Mönch über den Rücken. Es gab keine Worte, die jetzt helfen würden. Er konnte dem Jungen seinen Schmerz nicht nehmen, konnte nur da sein, ein wenig zuhören und ihm in den letzten Stunden seines Lebens Wärme und Trost spenden.
    Er selbst hatte den größten Kampf seines Lebens verloren und war an seinem Versprechen gescheitert. Nach dem heutigen Tag würde nichts mehr so sein, wie es einmal war.
    Irgendwann hörte Anderl auf zu schluchzen und löste sich aus der Umarmung. Er bückte sich, hob die Tiere wieder auf und stellte sie zurück auf den

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