Das Pesttuch
riesengroßen Angst glichen wir alle verwu n deten Tieren, die jeden anspringen würden, beso n ders eine, die sich so abgrundtief böse verhalten hatte wie Aphra. Abscheu und Zorn stiegen in mir auf. Ich verspürte den Zwang, sie meinerseits wütend anz u spucken. Daraufhin schaute ich mich um. Warum, weiß ich nicht recht. Da sah ich am Rand der Menge die winzige, verheulte Gestalt von Aphras Tochter Faith mit offenem Munde dastehen. Im allgemeinen Getöse konnte niemand ihr klägliches Jammern h ö ren. Jetzt drehte ich den höhnischen Gesichtern und ausgestreckten Fingern den Rücken zu, rannte zu dem Kind und barg es in meinen Armen. Ich wollte keinesfalls, dass dieses kleine Mädchen, das immer noch meine Halbschwester und die einzige noch l e bende Blutsverwandte war, den Vorfall im Stei n bruch mit eigenen Augen ansehen musste, egal, was noch geschah. Das Kind stand zu sehr unter Schock, um sich zu wehren, als ich es forttrug. Wir hatten den Pfad hügelauf schon halb zurückgelegt, da erhob sich die Stimme des Herrn Pfarrers über die lärmende Menge und klang laut und deutlich durch den schü s se l förmigen Steinbruch.
»Ruhe! Entweiht nicht diesen heiligen Platz – di e se unsere Kirche – durch derart unheiliges Fluchen!«
Zu meiner Überraschung verstummten alle. Ich wandte mich um, um seine nächsten Worte zu hören.
»Die Anklage gegen diese Frau wiegt in der Tat schwer. Man wird sie anhören, und sie wird sich d a für verantworten müssen. Aber nicht hier, nicht jetzt. Dies ist eine Angelegenheit für morgen. Geht jetzt nach Hause und betet zu Gott, auf dass er das Opfer annimmt, das wir heute Nacht gebracht haben, und unser Flehen um Seine göttliche Gnade erhört.«
Trotz ärgerlichen Gemurmels folgten die Leute seinen Worten. Gehorsam war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Ich nahm Faith mit in meine K a te, wo sich das Kind die ganze Nacht wimmernd hin und her warf und durch Albtraumlandschaften wa n derte, in die ich ihm nicht folgen konnte. Ich hing e gen erwischte nur Schlaffetzen und erwachte vom strengen Geruch glimmender Asche.
Wer bin ich, um Michael Mompellion die Gesche h nisse jener Nacht vorzuwerfen?
Kein Mensch kann stets in allen Belangen ein g e rechtes Urteil abgeben, egal, wie weise er ist oder welch gute Absichten er auch hegt. In jener Nacht irrte er, und zwar bitter, und bitter musste er dafür bezahlen. Vermutlich war seine hohe Meinung vom jungen Brand schuld daran. Er wusste nur allzu gut, wie tapfer sich Brand gegenüber Maggie Cantwell in ihrem Unglück verhalten hatte. Außerdem war er auf die Art und Weise stolz gewesen, wie der junge Mann bei Charity und Seth die Bruderrolle und nach Jakob Merrills Tod die Verantwortung für dessen Hof übernommen hatte.
Da Brand und Robert Aphras Untat entlarvt hatten, sollten sie sie im Auftrag des Herrn Pfarrers bis zur Verhandlung am nächsten Tag in Gewahrsam ne h men. Ihnen zu sagen, wie sie sie einsperren sollten, daran dachte er ebenso wenig, wie er sie ermahnte, ihre Bestrafung ja nicht selbst in die Hände zu ne h men. Leider war der Zorn der jungen Männer so he f tig, dass ihnen in ihrer Verbitterung die Idee, die R o bert einfiel, passend erschien.
Robert Snee hielt auf seinem Hof Schweine. Er war ein guter Bauer und hatte sich viele schlaue M e thoden zur Steigerung seines Ertrags ausgedacht. E i ne seiner Neuerungen war ein Weg, Schweinemist rasch in nützlichen Dünger umzuwandeln. Er hatte sich angewöhnt, die flüssigen und festen Hinterla s senschaften in den Koben zusammen mit dem ve r brauchten Stroh a us dem Stallhof in eine tiefe Kal k steinhöhle auszumisten – eine natürliche Zisterne, die bequemerweise am Hügelhang lag. Auf der nie d rigen Höhlenseite hatte er eine Rinne eingebaut, über die er den gut verrotteten Dünger zum Ausbringen direkt in seinen Karren leiten konnte.
Genau in diese finstere, stinkende Grube warfen Brand und Robert Aphra. Bei einer späteren Ortsb e sichtigung konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie die Nacht dort überlebt hatte. Der beißende Gestank verätzte Kehle und Brust. Braunschäumend und sehr lebendig schwappte der Dung bis hoch in den Kal k stein hinauf, vermutlich mindestens so hoch, dass Aphra den Kopf hatte schief legen müssen, damit ihr nicht bei der kleinsten Bewegung die Dreckbrühe in den Mund spritzte. Da aber der Kot, auf dem sie stand, nicht ganz fest war, war Stillstehen unmöglich. Wenn sie nicht immer tiefer versinken wollte, musste
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