Das Pesttuch
später tot war. Ich stand bei Lib Hancock, während ihr Mann begraben wurde. In unserem Kummer klammerten wir uns aneinander. Aber bis auf eine Zeile kann ich nicht sagen, welche Worte in der Kirche oder am offenen Grabe fielen: »Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.« Dies erschien mir tatsächlich eine umfassende Beschreibung uns e rer damaligen Not.
Nach ein, zwei Tagen fand ich einen Weg, mich erneut durch meine Arbeit zu quälen, obwohl meine Hände getrennt von meinem Kopf funktionierten. Die Tage und Nächte glitten einfach vorbei. Ein dichter Nebel schien sich auf mich und alles ring s herum gelegt zu haben, und ich tastete mich von e i ner lästigen Pflicht zur nächsten, ohne etwas wirklich klar zu sehen. Wenn ich keine Beschäftigung für meine Hände fand, verbrachte ich viel Zeit im Kirc h hof. Nicht an den Gräbern meiner Buben, wie man glauben möchte, sondern in dem stillen Hain hinter der Kirche, wo die alten Gräber sind. Der grasb e wachsene Boden ist dort teilweise eingesackt, und wilde Rosenranken mit rötlichen Hagebutten w u chern ungezähmt über Gräbern, deren Inschrift ve r wittert und kaum mehr lesbar ist. Unter ihnen konnte ich verweilen. Sie legen Zeugnis für den Verlust und das Leid mir unbekannter Menschen ab, deren Schmerz ich nicht teilte. Und von hier aus konnte ich auch nicht die Schaufelgeräusche des Totengräbers hören oder die frisch aufgeworfene Scholle sehen, die schon den nächsten Leichnam eines Nachbarn erwartete.
Zwischen diesen alten Gräbern erhebt sich ein großes Kreuz, das nach alter Art von Menschen aus Stein gehauen wurde, die lange vor unserer Erinn e rung über diese Hügel gingen. Angeblich hat man es von jenem einsamen Pfad heruntergebracht, der sich kurz unterhalb des Gipfels des White Peak dahi n zieht. Jetzt überragt es wie ein beunruhigender fre m der Besucher die kleinen Monumente unserer Hände. Ich lehnte mich ans Kreuz und ließ meine Stirn auf seiner rauen, vom Wind zerfurchten Oberfläche r u hen. Aus der Erinnerung tauchten Gebetsfragmente auf und verschwanden wieder, unterbrochen von meinen wirren Gedanken. Siebe, die Magd des Herrn. Warum gehörte ich nicht zu den vielen im Beinhaus? Mein Mann tot, aber ich nicht. Verstorben mein Logiergast, aber ich nicht. Meine Nachbarn, aber ich nicht. Meine Kinder – meine Kinder! Meine Augen brannten. Ich presste mein Gesicht gegen den Stein und atmete seinen Geruch ein, kühl und moosig und beruhigend. Mir geschehe nach Deinem Worte. Meine Finger zogen auf beiden Seiten die verschlu n genen Bänder nach, und ich stellte mir die Hände vor, die sie herausgehauen hatten. Wie gerne hätte ich mich mit diesem Handwerker aus längst verga n genen Tagen unterhalten. Ich wollte wissen, wie se i ne Leute mit ihrem von Gott auferlegten Geschick zurechtgekommen waren. Engel waren in den Stein geschnitten, aber auch seltsame Wesen, deren Natur ich nicht kannte. Elinor Mompellion hatte mir einmal erzählt, dieses Kreuz käme aus einer Zeit, als der christliche Glaube noch neu in Britannien war und mit den alten Riten, wie zum Beispiel Menhiren und Blutopfern, wetteifern musste. War es aus einem fe s ten und sicheren Glauben heraus entstanden? Oder war es die Geste eines Menschen gewesen, der einen Gott gnädig stimmen wollte, der offensichtlich nicht jene Liebe und Ehrfurcht begehrte, zu denen uns die Heilige Schrift auffordert, sondern ein nie endendes Übermaß unseres Leides. Nach Deinem Worte. W a rum waren Gottes Worte immer so hart?
Wenn sich nicht eines meiner Herdentiere droben im Moor verlaufen hätte, hätte ich mich vermutlich weiterhin ganz der Trauer hingegeben. Es geschah in der dritten Woche nach Jamies Tod. Ich hatte die Schafe vernachlässigt, und einige waren auf der S u che nach besserer Weide, wohin ich sie längst hätte führen sollen, auf eigene Faust losgezogen. Zinngrau war der Himmel an jenem Nachmittag, und die Luft schmeckte metallisch nach erstem Schnee. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als sie suchen zu g e hen, obwohl mir jeder Schritt hügelan schier übe r menschlich erschien. Ich verfolgte gerade oben an e i ner Klamm am Rande des Moores ihre Spuren, als ich einen entsetzlichen Schrei hörte. Er drang aus e i ner nahe gelegenen Grube herüber, die man vor gut einem halben Dutzend Jahren durch Fluten stillgelegt hatte.
An die zehn, zwölf Leute drängten sich dort auf unsicheren Beinen im Kreis. Ihre lauten Stimmen klangen so undeutlich, als wären sie direkt aus der
Weitere Kostenlose Bücher