Das Pesttuch
Armen liegen, wie ich ihn hi n legte. Ich bettete mich neben ihn, zog ihn dicht an mich und redete mir ein, er würde wie immer in den frühen Morgenstunden mit einem kräftigen Schrei nach Milch erwachen. Eine Zeit lang pochte sein kleiner Puls schnell, und sein winziges Herz klopfte, aber gegen Mitternacht wurde der Rhythmus unruhig und schwach, bis er zuletzt nur noch flatterte und schließlich erlosch. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebte und nie vergäße. Und dann barg ich mit meinem ganzen Körper mein totes Baby und weinte, bis ich mit ihm in meinen Armen einschlief. Zum letzten Mal.
Beim Erwachen strömte Licht durchs Fenster, das Bett war nass, und eine Stimme heulte wild. Toms Lebensblut hatte sich über Hals und Darm aus dem kleinen Körper entleert. Wo ich ihn an mich gedrückt hatte, war mein eigenes Gewand klatsch-nass. Ich hob ihn von der blutigen Pritsche und rannte auf die Straße, wo schon alle meine Nachbarn standen. Alle Gesichter waren auf mich gerichtet, voller Trauer und Furcht. Einige hatten Tränen in den Augen. Aber die heulende Stimme gehörte mir.
Hexenzeichen
Als ich ein Kind war, erzählte mein Vater manc h mal von seiner Zeit als Schiffsjunge. Normalerweise tat er dies, um uns, wenn wir etwas angestellt hatten, durch Abschreckung zu besserem Betragen anzuha l ten. Von der Peitsche erzählte er und vom anschli e ßenden Beizen, bei dem ein frisch Bestrafter vom Mast gebunden und in ein Fass mit beißender Lake getunkt wurde. Er sagte, der grausamste Bootsmann führe die Peitsche so, dass die Hiebe immer wieder auf dieselbe Stelle träfen, wo sich bereits die Haut in langen Streifen abgeschält habe. Der Geschickteste wiederum könne die Peitsche so genau landen lassen, dass sie den Muskel durchschnitt und den Knochen bloßlegte.
Die Pest ist genauso grausam. Immer und immer wieder fallen ihre Hiebe auf nacktes Leid, und noch ehe man einen geliebten Menschen betrauert hat, hält man schon den nächsten krank im Arm. Jamie weinte noch bitterlich um seinen Bruder, als seine Tränen in fiebriges Wimmern übergingen. Mein Kleiner liebte sein Leben und kämpfte hart darum, es festzuhalten. Elinor Mompellion stand mir von Anfang an zur Se i te. An ihre sanfte Stimme erinnere ich mich noch am besten aus jenen düsteren Tagen und Nächten.
»Anna, ich muss dir gestehen, dass in meinem M i chael bereits beim ersten Besuch an George Viccars’ Krankenlager der Verdacht auf Pest aufgekeimt ist. Du weißt ja, dass er bis vor kurzem an der Univers i tät Cambridge studiert hat. Deshalb hat er sofort se i nen Freunden geschrieben und sie gebeten, d urch Befragen der dort lehrenden großen Ärzte herausz u finden, was man über die neuesten Heilmi t tel weiß. Eben heute hat er eine Antwort beko m men.« Sie zog den Brief aus ihrer Rocktasche, entfaltete und übe r flog ihn. Ich lugte über ihre Schultern und versuchte, mir so gut wie möglich einen Reim darauf zu m a chen, denn mit handschriftlichen Di n gen hatte ich bisher nur wenig Bekanntschaft g e macht. Trotz der äußerst sauberen Schrift fiel mir das Entziffern schwer. »Der Briefschreiber ist ein lieber Freund von Mister Mompellion, deshalb hält er sich, wie du siehst, recht lange mit Gruß Worten und b e sorgten Äußerungen auf. Gleichzeitig äußert er die Hof f nung, Mister Mompellion möge sich vielleicht doch hinsichtlich der wahren Natur jener Krankheit tä u schen, die unter uns ausgebrochen ist. Aber hier kommt er zu guter Letzt doch noch auf den Punkt und erklärt, dass die gelehrten Dok tores bei der B e kämpfung der Pest große Hoffnung auf diese neuen Methoden setzen.« Und so kam es, dass mein armer Junge mit höchster Autorität und besten Absichten einige Behandlungen über sich ergehen lassen mus s te, die am Ende vielleicht doch nur seine Qual ve r längerten.
Während die Geschwulst bei George Viccars im Nacken ausgebrochen war, bildete sie sich bei Jamie unter der Achsel, sodass er vor Schmerzen jämme r lich schrie und sein schmales Ärmchen seitlich wei t ab hielt, um den Druck auf sein eigenes Fleisch zu lindern. Ich hatte mich bereits an Zugpflastern mit einer Paste aus Meersalz, Roggenschrot und Eigelb versucht, die ich mit einem weichen Lederstreifen über der Geschwulst befestigte. Aber das Geschwür wuchs einfach weiter, von Wal nussgröße bis zum Ausmaß eines Gänseeis, ohne aufplatzen zu wollen. Mister Mompellions Freund hatte in allen Details ein Rezept der medizinischen Fakultät aufgeschrieben,
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