Das Pesttuch
Hauertaverne gekommen. Auch Lib Hancock befand sich darunter, die unter den Nachwirkungen des A l kohols herumtaumelte. Und daran war sie überhaupt nicht gewöhnt, das wusste ich genau. Mitten drin lag Mem Gowdie auf dem Boden, die dünnen Arme mit einem ausgefransten Seilstück gefesselt. Auf ihrer Brust kniete Brad Hamilton, während seine Tochter Faith die alte Frau an ihren w enigen Haaren gepackt hielt und ihr mit einem Weißdornstecken die Wange zerkratzte. »Und ich bekomm’s doch noch, du H e xe!«, schrie sie, während Mem stöhnend versuchte, ihre gefesselten Hände vors Gesicht zu heben, um die Schläge abzuwehren. »Dein Blut wird diese Krankheit aus dem Körper meiner Mutter vertre i ben.« Im Kreis hielt Jude, der älteste Sohn der H a miltons, seine Mutter in den A r men. Faith rieb Mem mit der Hand über die zerkratzte und blutende Wa n ge, ehe sie schwankend aufstand und ihrer Mutter das Blut in den Nacken schmierte, wo sich pochend die Pestgeschwulst zeigte.
Noch während ich auf sie zu rannte und dabei die steile Klammwand hinabschlitterte und rutschte, dass die losen Steine nur so um mich polterten, löste sich Mary Hadfield aus der Schar, warf sich neben Mem zu Boden und schob ihr wutverzerrtes Gesicht bis auf wenige Zoll an das der alten Frau heran. »Du hast meine Familie getötet, Zauberin!« Mem zuckte z u sammen und versuchte, verneinend den Kopf zu schütteln. »Ich habe doch gehört, wie du ihn ve r flucht hast, weil er den Bader zu Edward gebracht hat! Ich hab’s gehört, als du fortgingst! Deine Bo s heit hat über meinen Mann und meine Mutter und meine Söhne die Pest gebracht!«
»Mary Hadfield!«, schrie ich gellend. Mit letzter Kraft versuchte ich, mir über das betrunkene G e murmel Gehör zu verschaffen. Einige Gesichter wandten sich um, als ich mich keuchend in den Kreis drängte. »Mem Gowdie hat so etwas nicht getan! Warum sagst du das? Auch ich stand mit ihr auf de i ner Türschwelle, als dieser Quacksalber bei dir zu Hause war. Sie hat dein Haus mit stummen Lippen verlassen. Behaupte lieber, dieser Bader mit seinen Blutegeln und seinem Purgieren habe den Tod deines Edwards beschleunigt, als diese brave Seele zu ve r leumden!«
»Warum verteidigst du sie, Anna Frith? Verrotten deine eigenen Kinder vielleicht nicht wegen ihres Fluches unter der Erde? Du solltest uns lieber hier helfen. Ve r schwinde, wenn du nur stören willst.«
»Werft sie ins Wasser!«, brüllte eine andere stur z betrunkene Stimme. »Dann werden wir ja sehen, ob sie ‘ne Hexe ist oder nicht!«
»Jawohl!«, brüllte es zurück, und die von den Hi e ben halb bewusstlose Mem wurde zum Mundloch der gefluteten Grube gezerrt. Ihr altes, oft geflicktes Mieder hatte dem Gezerre nicht standgehalten. Eine verschrumpelte Brustwarze lag bloß, die sich unter den Schlägen dunkelrot gefärbt hatte. Die Grube war breit. Ich konnte die glitschigen Steine im Dunkeln verschwinden sehen.
»Wenn ihr sie hinunterwerft, seid ihr alle Mö r der!«, brüllte ich, wobei ich mich Brad Hamilton in den Weg zu stellen versuchte, der noch den vernün f tigsten Eindruck von allen machte. Aber als ich ihn am Arm packte, sah ich, dass Alkohol und Kummer sein Gesicht verzerrt hatten. Da fiel mir wieder ein, dass er heute seinen Sohn John begraben hatte. Er stieß mich beiseite. Ich verlor das Gleichgewicht und schlug heftig hin, wobei mein Kopf gegen eine San d steinnase knallte. Als ich ihn zu heben versuchte, drehte sich die Erde und wurde dunkel.
Als ich wieder zu mir kam, heulte Mary Hadfield gerade: »Sie sinkt! Sie sinkt! Sie ist keine Hexe! Gott verzeih uns, wir haben sie umgebracht!« Zuerst zer r te sie den einen Mann am Ärmel und dann den and e ren und versuchte, sie zum Mundloch zu ziehen. Jude hielt das ausgefranste alte Seilende, mit dem man Mem gefesselt hatte, und starrte es an, als erwarte er, in den zerfetzten Strängen eine Antwort zu finden. Mühsam rappelte ich mich auf die Beine und spähte angestrengt ins Dunkel, aber außer dem verzerrten Spiegelbild meines eigenen blutverschmierten G e sichts, das mich seinerseits von der Wasseroberfl ä che anstarrte, konnte ich nichts erkennen. Als ich merkte, dass keiner etwas unternehmen wollte, schob ich alle m it Gewalt zur Seite, warf mich über den Stolle n rand und tastete nach dem ersten Trittbrett. Aber als ich meinen Stiefel daraufsetzte, gab das morsche Holz nach und brach durch. Hilflos hing ich einen Augenblick über der Grube, ehe jemand einen Arm
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