Das Pesttuch
das ich als Nächstes mit Mistress Mompellions Hilfe versuchte. Dazu war es nötig, eine große Zwiebel in der Glut zu rösten, sie auszuhöhlen und mit einer Feige, gehackter Raute und einem Schluck Venezi a nischem Sirup zu füllen. Zum Glück für uns, dachte ich damals, hatte Mem Gowdie beides: die getroc k neten Feigen und den Sirup, der aus einer Honigmi x tur mit seltenen Ingredienzen besteht, deren Herste l lung langwierig ist und höchste Sorgfalt erfordert.
Diese Zwiebeln röstete ich, eine nach der anderen, obwohl sie so unangenehm auf die geschwollene Stelle drückten, dass mein Kind sich laut schreiend herumwälzte und vor Schmerz schweißgebadet war. Dem eigenen Kind wehzutun, ist das Bitterste auf der Welt, sogar wenn man glaubt, man täte es zu seiner Rettung. Weinend band ich die verhassten Zugpfla s ter um, dann nahm ich ihn in den Arm, wiegte ihn und versuchte ihn so gut wie möglich zu trösten, i n dem ich ihn mit all seinen Lieblingsliedern und säm t lichen Geschichten ablenkte, die ich mir ausdenken konnte.
»Vor langer Zeit lebte in einem fernen Lande ein kleiner Junge«, flüsterte ich ihm in den frühen Mo r genstunden zu, denn ich verspürte das Bedürfnis, die dunkle Stille durch einen beständigen Redestrom zu bannen. »Er war ein guter kleiner Junge, aber sehr arm. Sein ganzes Leben verbrachte er in einem dun k len Raum, wo er lange und hart arbeiten musste und sich von früh bis spät plagte, bis er sehr müde war. Dieser Raum besaß nur eine einzige Türe. Und doch hatte der kleine Junge sie noch nie durchschritten und wusste nicht, was dahinter lag. Und weil er das nicht wusste, hatte er vor dieser Türe Angst. Obwohl er so gern gewusst hätte, was sich außerhalb seines Raumes befand, hatte er nie den Mut besessen nac h zusehen. Aber eines Tages erschien dem kleinen Jungen ein strahlender Engel, und der sagte zu ihm: › Es ist Zeit. Du bist sehr brav gewesen und hast de i ne Arbeit gut gemacht. Jetzt kannst du sie beiseite legen und mit mir kommen. ‹ Er öffnete die Türe, und dahinter lag im Sonnenschein der schönste Ga r ten, den der Junge je gesehen hatte. Kinder waren dort und lachten und spielten. Die nahmen den kleinen Jungen bei der Hand und zeigten ihm alle Wunder seines neuen Zuhauses. Und so lebte und spielte er in alle Ewigkeit in diesem goldenen Licht, und nichts tat ihm je wieder weh.« Seine Lider flatterten, matt l ä chelte er mich an. Ich küsste ihn und flüsterte: »Hab keine Angst, mein Schatz, hab keine Angst.«
Am Morgen brachte Anys Gowdie einen Saft vo r bei, einen Absud aus Mutterkrautblüten mit ein bis s chen Wermut in gezuckertem Sherry. Dann tat sie das, was sie und ihre Tante immer taten, wenn sie ihre Heilmittel vorbeibrachten. Bevor sie Jamie den Trunk gab, legte sie ihm sanft die Hände auf und murmelte: »Mögen die sieben Gebote dieses Werk leiten. Möge es meinen Großmüttern, den Urahnen, gefallen. So sei’s denn.« Außerdem hatte sie eine kühlende, nach Minze duftende Salbe mitgebracht und fragte mich, ob sie diese dem Kind zur Fiebe r senkung auftragen dürfe. Sie setzte sich mit dem R ü cken zur Wand auf den Boden, zog die Knie an und legte seinen kleinen Körper so auf ihre Schenkel, dass sein Kopf auf ihren Knien ruhte, und seine Füße auf ihren Hüften. Zärtlich war ihre Berührung und ganz regelmäßig. Ohne abzusetzen strichen ihre Hände über seine Augenbrauen und weiter hinunter über Körper und Gliedmaßen. Dazu sang sie leise: »Zwei Engel kamen von Osten herein. Der eine bracht Feuer, der andere Frost. Hinaus mit dem Fe u er! Frost, komm herein! Lasst alle guten Geister der Mütter um uns sein.« Obwohl Jamie unruhig vor sich hin gewimmert hatte, beruhigte er sich unter ihrer Berührung. Seine Augen suchten die ihren und schauten sie unverwandt an. Schließlich fiel er in e i nen willkommenen Schlaf.
Als ich ihn von ihrem Schoß nahm und auf die Pritsche legte, hatte seine Haut die fieberrote Farbe verloren und fühlte sich unter meinen Händen kühl an. Von ganzem Herzen dankte ich i hr für die E r leichterung, die sie ihm gebracht hatte. Üblicherwe i se tat sie Dank oder Lob mit einem barschen Rüffel ab, aber an jenem Morgen ergriff sie sanft meine ausgestreckte Hand. »Du bist eine gute Mutter, Anna Frith.« Sie musterte mich ernst. »Deine Arme we r den nicht für immer leer bleiben. Denke daran, wenn dir der Weg düster erscheint.«
Anys wusste allzu gut, dass ihre Fürsorge meinem Jungen nur kurz
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