Das Pesttuch
diesem Ort. Ich kenne diese Leute nicht so, wie Sie und Ihre Familie sie kennen, Sie, die hier seit vielen Generationen ansässig sind. Ihr kluger Rat über das Vorgehen im Laufe der weiteren Ereignisse könnte mich vieles lehren. Und während es meine Pflicht ist, diesen Menschen so gut wie möglich Trost zu spenden, würde selbst die kleinste Geste von Ihnen und Ihrer Frau und von Miss Bradford u n endlich viel mehr bedeuten.«
Droben auf dem Treppenabsatz unterdrückte El i zabeth Bradford ein höhnisches Schnauben. Ihr Vater warf einen Blick zu ihr hinauf. Beide wirkten am ü siert. »Wie schmeichelhaft!«, rief er mit zynischem Grinsen. »Wirklich, das ist zu viel der Ehre. Mein lieber Sir, ich habe meine Tochter nicht erzogen, damit sie für den Pöbel die Amme spielt. Und wenn ich mich danach gesehnt hätte, den Mühseligen und Beladenen beizustehen, hätte ich es Ihnen gleichg e tan und die Priesterweihe empfangen.«
Mompellion ließ den Arm des Oberst fallen, als hätte er etwas Verdorbenes in der Hand, was er eben erst bemerkt hatte. »Um Mensch zu sein, muss man kein Priester sein!«
Er drehte sich um und schritt zum Kamin, wo die beiden Prachtschwerter von Oberst Bradford wie ein schimmernder Bogen über dem Sims hingen. O b wohl der Herr Pfarrer noch immer den Brief des Oberst in der Hand hielt, schien er ihn vergessen zu haben. Als er die Hand nach dem Kaminsims au s streckte und sich schwer dagegenlehnte, zerknitterte das Pergament. Mühsam rang er um Selbstbeher r schung. Von meinem Versteck aus konnte ich tei l weise sein Gesicht erkennen. Er atmete tief ein. Beim Ausatmen schien er mit bloßer Willenskraft die ti e fen Falten über seinen Brauen und neben dem Mund zu tilgen. Es war, als sähe man jemandem beim A n legen einer Maske zu. Als er dem Kamin den Rücken zuwandte und wieder dem Oberst ins Gesicht scha u te, wirkte seine Miene ruhig und gelassen.
»Wenn Sie schon unbedingt Frau und Tochter we g schicken müssen, dann beschwöre ich wenig s tens Sie inständig, hier zu bleiben und Ihre Pflicht zu tun.«
»Maßen Sie sich nicht an, mir zu sagen, was me i ne Pflicht ist! Ich schreibe Ihnen ja auch nicht die Ihre vor, auch wenn ich sagen möchte, dass Sie gut daran täten, sich mehr um Ihre fragile Frau zu kü m mern.«
Bei dieser Bemerkung wurde Mompellion rot. »Was meine Frau betrifft, Sir, so will ich wohl ei n gestehen, dass ich sie schon beim ersten Verdacht meinerseits auf das, was wir nun tatsächlich wissen, beschworen habe, diesen Ort zu verlassen. Aber sie lehnte mit der Bemerkung ab, es sei ihre Pflicht zu bleiben. Und mittlerweile sagt sie, ich müsse mich darüber freuen, da ich von anderen wohl kaum etwas verlangen könne, was ich meinen nächsten Anve r wandten nicht auferlegt hätte.«
»So, so. Offensichtlich sind falsche Entscheidu n gen für Ihre Frau nichts Neues. Sie hatte ja schon durchaus Gelegenheit, sich darin zu üben.«
Diese Beleidigung war so grob, dass ich heftig schlucken musste, um nicht hörbar nach Luft zu schnappen. Trotz geballter Fäuste gelang es Mo m pellion, seinen gleichmütigen Tonfall beizubehalten. »Vielleicht haben Sie Recht. Aber ebenso ist es me i ne Überzeugung, dass Sie mit Ihrer heutigen En t scheidung einen Fehler begehen, und zwar einen schrecklichen. Wenn Sie das tun, wird man den N a men Ihrer Familie in den Gassen und Katen ausz i schen. Die Menschen werden Ihnen nicht verzeihen, dass Sie sie im Stich gelassen haben.«
»Und Sie glauben, mich interessiert die Meinung von ein paar verschwitzten Bergleuten samt ihren rotznäsigen Bälgern?«
Mister Mompellion sog kurz hörbar die Luft ein und trat einen Schritt vor. Der Oberst war ein stä m miger Mann, aber Mister Mompellion war einen ganzen Kopf größer. Obwohl ich von meinem engen Ve r steck aus sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, kann ich mir gut vorstellen, dass er genauso wild en t schlossen ausgesehen haben muss wie damals auf dem Hügelkamm in jener Nacht, als Anys ermordet wurde. Der Oberst hob die Hand mit der Handfläche nach unten zu einer beschwichtigenden Geste.
»Schauen Sie, Mann, glauben Sie nicht, ich würde Ihre derzeitigen Bemühungen herabsetzen. Dafür verdienen Sie jedes Lob. Ich behaupte auch nicht, dass Sie etwas falsch machen, wenn Sie Ihrer G e meinde das Gefühl geben, sie täte etwas Heiliges, indem sie hier bleibt. Im Gegenteil. Ich finde, das haben Sie sogar sehr gut gemacht. Da ihnen keine andere Wahl bleibt, verdienen sie auch ein wenig
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