Das Pesttuch
Wirklichkeit gewesen, wie winzig!
Elinor umarmte mich. In diesem Moment spürte ich eine Gewissheit: Für diese Frau würde ich alles tun, alles, worum sie mich bäte. »Lassen wir’s damit gut sein«, sagte sie, »denn es gibt noch viel zu tun. Schau mal, schau dir das mal an.« Sie griff in ihre Schürzentasche und zog ein gefaltetes Blatt Perg a ment h eraus. »Ich habe eine Liste aller bisheriger Pes t opfer erstellt und diese dann auf eine Karte aller G e höfte hier am Ort übertragen. Daraus können wir meiner Meinung nach ablesen, wie sich diese Pest i lenz verbreitet und auf wen.«
Da lag es, unser pestverseuchtes Dorf, mit den Namen all seiner dreihundertundsechzig armen Se e len. Wie Insektenkörper auf einer Schautafel steckten sie auf der Karte. Annähernd fünfzig Namen hatte Elinor schwarz unterstrichen. Ich hatte mir nicht vo r gestellt, dass die Krankheit schon so viele ausg e löscht hatte. Eines zeigte die Karte deutlich: wie sich die Ansteckung, einem tödlichen Sternenregen gleich, von meiner Kate aus verbreitet hatte.
Elinor zupfte mich beschwörend am Ärmel: »Schau dir die Namen der Opfer an. Was fällt dir dabei zuerst auf?« Stumm starrte ich auf die Karte. »Kannst du’s nicht sehen? Die Pest macht keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, beide st e hen gleich oft auf der Totenrolle. Und doch macht sie einen Unterschied: Sie wählte eher die ganz Ju n gen als die Uralten. Fast die Hälfte unserer Toten war noch nicht einmal sechzehn. Der Rest sind Menschen in den besten Jahren. Bisher war noch kein Silbe r haariger darunter. Warum, Anna, warum? Meiner Ansicht nach haben die Alten in diesem Dorf lange gelebt, weil sie Krankheiten gut bekämpfen können. Wenn man so will, sind sie Veteranen im Krieg g e gen Krankheiten. Was müssen wir also tun? Wir müssen die Kinder stärker machen – ihnen Waffen geben, mit denen sie kämpfen können. Vergeblich haben wir versucht, die Kranken zu heilen, und sind daran gescheitert. Von allen, die sich mit der Pest angesteckt haben, hat nur einer länger als eine W o che überlebt – die alte Margaret Blackwell.«
Margaret, die Frau des Hufschmieds Blackwell, war gleichzeitig mit den Sydells erkrankt und war es noch immer. Trotzdem schien es ihr bestimmt zu sein, ihr Martyrium zu überleben. Weil sie nicht g e storben war, bezweifelten inzwischen einige, dass sie überhaupt die Pest gehabt hatte. Ich allerdings hatte die Schwellung an ihrer Lende gesehen und sie g e pflegt, als die Geschwulst beim Aufbrechen ihr eitr i ges Gift entließ. Andere behaupteten, es handle sich lediglich um ein Furu n kel oder eine Zyste. Aber ich blieb dabei: Das war eine Pestgeschwulst. Und damit wäre Margaret vie l leicht unsere erste Überlebende.
»Für die meisten«, fuhr Elinor fort, »bedeutet der Ausbruch dieser Krankheit das Ende. Deshalb mü s sen wir Folgendes tun: sämtliche Kräuter mit stä r kender Wirkung finden und in einem Saft vereinen, der die Gesunden widerstandsfähiger macht.«
Und so hockten wir den ganzen restlichen Tag über den Büchern, die Elinor aus dem Pfarrhaus a n geschleppt hatte. Zuerst suchten wir nach Pflanze n namen, die angeblich eine kräftigende Wirkung auf einen jener vielen Körperteile hatte, die offensich t lich von der Pest befallen wurden. Es war ein mü h sames Vorgehen, denn die meisten Bücher aus dem Pfarrhaus waren in Latein oder Griechisch geschri e ben. Elinor musste sie mir übersetzen. Schließlich entdeckten wir den besten Band: das Buch eines g e wissen Avicenna, eines muselmanischen Arztes, der vor langer Zeit seine gesamte Erfahrung in einem umfassenden Kanon verzeichnet hatte. Als wir die Namen der Pflanzen hatten, gingen wir die Kräute r büschel durch und versuchten, die getrockneten Blä t ter und Wurzeln den Beschreibungen in diesem Buch zuzuordnen, was manchmal sehr schwierig war. Draußen durchsuchten wir den schneeverwehten Garten nach irgendwelchen robusten Pflanzen, deren Wurzelwerk wir ausgraben könnten, ehe der Boden gänzlich gefror. Am Nachmittag hatten wir die Wa f fen für unsere Rüstung zusammen: Brennnessel fürs Blut. Schleieraster und Veilchenblätter für die Lu n ge. Anserine zum Fiebersenken. Kresse für den M a gen. Für die Leber Löwenzahnwurzeln, Tol l kirsche für die Drüsen und Eisenkraut für den Hals.
In Säckchen sammelten wir so viele Büschel, wie wir nur tragen konnten, um sie in die Pfarrhausküche zu schaffen. Gerade wollte ich das Herdfeuer l ö schen, da
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