Das Pesttuch
hätte wachsen sollen. Doch leider war sie bereits schwanger.
Diese Erinnerungen schienen für Elinor sehr schmerzhaft zu sein. Sie ließ ihren Tränen nun freien Lauf, allerdings ohne lautes Schluchzen.
»Ich war verzweifelt, war verwirrt«, fuhr sie fort. »Mit einem Schürhaken habe ich mich selbst ve r letzt.«
Bei diesem Satz sog ich entsetzt die Luft ein und barg das Gesicht in den Händen. Schon die Vorste l lung von so viel Leid war mir unerträglich, und doch konnte ich nicht verhindern, dass sich mir schreckl i che Bilder davon aufdrängten. Blind streckte ich eine Hand aus und umfasste die ihre erneut ganz fest.
»Mein Vater bestellte den besten Arzt. Das hat mir das Leben gerettet. Leider nicht meinen Schoß. A n na, angeblich besteht er inzwischen nur noch aus e i ner Ansammlung von Narben. Zuerst gab man mir Mohn gegen die Schmerzen; später vermutlich, um mich ruhig zu halten. Und wenn es nicht Michael gäbe, würde ich vielleicht noch immer wie verloren in jenen leeren Träumen herumirren.«
Und so erfuhr ich, dass Michael Mompellion en t gegen meiner Vermutung nicht der Spross einer F a milie von bedeutenden Geistlichen war. Sein Vater war zwar ein Mann der Kirche gewesen, das stim m te, aber eben nur ein Vikar. Beim Ausbruch des Bü r gerkrieges war Michael, der Älteste von drei Ki n dern, erst ein kleiner Junge. Der Vater wurde in die Kriegswirren hineingezogen. Am Ende war die F a milie mittellos, und Michael wurde dem Verwalter des Familienbesitzes von Elinor anvertraut. So wuchs er mit Pflügen und Heumachen auf, mit dem Zureiten junger Pferde und dem Beschlagen von St u ten. Er lernte die umfangreiche Gutsarbeit in allen Einzelheiten kennen.
»Nach kurzer Zeit machte er bereits Vorschläge für eine bessere Verwaltung.« Jetzt schien sich ihre Stimme zu kräftigen, denn auf diesen Teil der G e schichte war sie stolz. »Mein Vater wurde auf M i chael aufmerksam und nahm sich seiner weiteren Ausbildung an. Er besuchte die besten Schulen, wo er brillierte, und ging von dort nach Cambridge. Als er heimkam, fand er mich geschwächt von meiner langen Krankheit vor. Täglich trug man mich in den Garten hinaus, wo ich einfach nur in meinem Stuhl saß und vor übergroßer Trauer und Reue nicht ei n mal aufstehen konnte. Anna, Michael bot mir seine Freundschaft an, und später seine Liebe.«
Jetzt lächelte sie verhalten. »Er brachte die Heite r keit in meine Welt zurück. Leid war ihm nichts Fremdes, da er es am eigenen Leib erfahren hatte. Er brachte mich in die Katen unserer Pächter und zeigte mir Sorgen, die meine um vieles übertrafen. Er machte mir klar, wie nutzlos es ist, sich im Bedauern über unabänderliche Dinge zu suhlen, und wie man selbst die schwersten Sünden sühnen kann. Sogar meine, Anna. Sogar meine.«
Dank seiner Unterstützung kehrte sie ins Leben zurück. Bis zum inneren Frieden dauerte es aber lä n ger. »Anfänglich borgte i ch mir seine Heiterkeit und benützte sie als Licht auf meinem Wege, aber als ich mir angewöhnt hatte, die Welt aus seinem hellen Blickwinkel heraus zu betrachten, entzündete sich allmählich das Licht in meinem Inneren wieder von selbst.« Kurz nach dem Ende seiner Studienzeit he i rateten sie. »Nach außen hin schien es, ich hätte mich zu einer Heirat mit ihm herabgelassen«, sagte sie, »aber wie du jetzt siehst, bringt in dieser Ehe einzig und allein mein lieber M i chael ein Opfer, mehr, als sich alle vorstellen kö n nen.«
Eine Weile saßen wir da und starrten ins Feuer, bis plötzlich ein Holzscheit verrutschte und einen Fu n kenregen auf den gestampften Boden sprühte. Da r aufhin stand Elinor abrupt auf und strich ihre Schü r ze glatt. »Und jetzt, meine liebe Anna, wo du alles weißt, willst du da immer noch bei und mit mir a r beiten?«
Alles Gehörte hatte mich so fassungslos gemacht, dass ich nichts sagen konnte, sondern stattdessen ei n fach von meinem Hocker aufstand, ihre beiden Hä n de ergriff und sie küsste. Wie wenig, dachte ich, wi s sen wir doch von den Menschen, mit denen wir l e ben. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich sicher nie gewagt, mir auch nur annähernd die Gedanken und Gefühle von zwei Menschen auszumalen, die im Leben so weit über mir standen. Aber ich hatte g e glaubt, sie durch die Arbeit in ihrem Hause näher kennen gelernt zu haben. Schließlich hatte ich mich ja um ihre Bedürfnisse gekümmert und ihr Kommen und Gehen und ihren Umgang mit anderen beobac h tet. Wie gering war dieses Wissen in
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