Das Pesttuch
in ihre Nähe. Ich ging nicht, und dafür werde ich mir ewig Vorwürfe machen. Denn aus u n serem fahrlässigen Verhalten und ihrer Einsamkeit erwuchs großer Zorn. Großer Zorn, Irrsinn und – ein Übermaß an Leid. Für Aphra. Und für uns alle.
Gegen Ende der zweiten Nacht ließ der Regen nach. Am Morgen wehte dafür ein steifer Wind, der das Wasser von den Asten blies und langsam die durc h geweichten Steine unserer Behausungen und die klatschnasse Erde auf unseren Feldern trocknete.
Und so war mein Vater schon drei Tage tot, ehe ich erfuhr, was aus ihm geworden war. Denn an j e nem Morgen erschien Aphra vor meiner Türe. Erde klebte an ihren Händen und fiel in feuchten Brocken von ihrem Kittel. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Augen lagen in tiefen dunklen Höhlen. Sie war bis zum Bauch schmutzig und trug ihr kleines Mä d chen Faith, das sich an sie klammerte.
»Sag mir, dass er hier ist, Anna«, flüsterte sie. Z u erst hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach. Mein verständnisloser Gesichtsausdruck beantwortete ihre Frage. Wie ein Tier heulte sie laut auf, warf sich zu Boden und trommelte mit den Fäusten gegen den Herd. Ihre Hände waren voller Blasen, die auf dem grauen Stein aufplatzten. Gelbe Flüssigkeit spritzte heraus. »Dann ist er immer noch dort! Hol dich der Teufel, Anna! Du hast ihn dort sterben lassen!« Das verschreckte Kind stimmte in das Geheule ein. Di e ser Lärm trieb Mary Hadfield an meine Türe. Mit vereinten Kräften packten wir Aphra und beruhigten sie, so gut es ging. Aber sie wand sich unter unseren Händen wie ein wildes Wiesel und warf sich herum, um uns zu entkommen.
»Lasst mich los! Lasst mich los! Bin doch die Ei n zige, der er am Herzen liegt!«
Ich war entschlossen, sie in diesem Zustand nicht loszulassen, auch wenn mir angesichts der Tragweite ihrer Worte speiübel geworden war. Im tiefsten He r zen hoffte ich, mein Vater habe sich selbst befreit und sei einfach weggelaufen. Zu so etwas war er durchaus fähig: ein gebrochener Eid – vor Aphra, vor dem ganzen Dorf, ja sogar vor Gott – würde ihm w e nig bedeuten.
Es dauerte eine Weile, ehe mir aus ihrem wirren Gejammer klar wurde, dass all ihre Buben tot waren. Sie hatte sie heute Morgen begraben. Sie hatte das Grab so groß gemacht, dass sie sie nebeneinander hineinlegen konnte, Hand in Hand. Die Blasen an ihren Händen kamen nicht nur davon, dass sie ein so g roßes Loch in die klatschnasse Erde gegraben hatte. Während ich ihr die Dornen aus den Wunden zog, erzählte sie mir, sie habe das Grab mit dreifach g e flochtenen Zöpfen aus Brombeerranken bedeckt, damit die Kraft der Heiligen Dreifaltigkeit ihre Sö h ne vor Hexen und Dämonen schütze. Meinen Geda n ken sprach ich nicht aus. Diese Brombeerranken würden sie höchstens davor schützen, von heru m wühlenden Schweinen ausgegraben zu werden. Wie viele andere Haustiere, deren tote Besitzer sich nicht mehr um sie kümmern konnten, rannten auch diese inzwischen auf der Suche nach Fressen hungrig durchs Dorf.
Sie zuckte zusammen, als ich ihre offenen Hände mit einer Salbe bestrich und sie mit dem weichsten Stoff verband, den ich finden konnte. Die Sache mit meinem Vater war das Letzte, womit sie sich nach dem Begräbnis ihrer Buben auseinander setzen sol l te, dachte ich im Stillen. Sollte er dort oben tatsäc h lich schon seit drei Tagen tot sein, würde er einen grausigen Anblick bieten. Wenn er aber fortgelaufen war, würde ihr die Erkenntnis, dass er sie im Stich gelassen hatte, noch mehr Kummer bereiten. Ich sa g te, ich würde Brand oder einen anderen jungen Mann hinauf zur Unwin-Grube schicken, aber bei diesem Vorschlag fing sie erneut zu jammern an. »Die ha s sen ihn alle! Die lass ich nicht in seine Nähe! Du hasst ihn auch. Brauchst dich gar nicht zu verstellen. Lass mich einfach los, damit ich ihm die letzte Ehre gebe.« Da ich sie in ihrem gequälten Zustand weder bändigen noch ihr widersprechen konnte, beschloss ich mitzugehen. Allerdings brachte ich sie dazu, das Kind bei Mary Hadfield zu lassen, damit wenigstens der Kleinen dieser Anblick erspart bliebe, egal, was wir vorfänden.
Wie groß dieses Entsetzen sein würde, begriff ich leider nicht, sonst hätte ich es vielleicht auch mir e r spart. Gott sei Dank rüttelte ein steifer Wind an den Skeletten der im Winter erfrorenen Adlerfarne und an den nackten Zweigen von totem Heidekraut, s o dass der Gestank nach Kot und Verwesung aus den halb zerfleischten Eingeweiden meines Vaters
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