Das Pesttuch
nur in den kurzen Pausen zwischen kräftigen Böen zu uns herüberdrang. Die wilden Ti e re hatten reichlich Zeit gehabt, ihr Werk zu volle n den. Was nun noch am Göpel hing hatte mehr Ähnlichkeit mit einem unb e holfen geschlachteten Stück Rindfleisch als mit den sterblichen Überresten eines Menschen.
An diesen zerstörten Körper heranzutreten war e i ner der schwersten Schritte meines Lebens. Allein der Anblick ließ mich stocken. Schon wollte ich mich wieder umdrehen und jemanden um diese Tat anflehen, der nicht mit uns verwandt war, aber Aphra ging einfach weiter. Ihr Tobsuchtsanfall war inzw i schen vorbei. Kalt und ruhig war sie geworden und murmelte nur beständig vor sich hin. Kerzengerade trat sie an den Göpel und zerrte an dem Dolch he r um, der die Überreste meines Vaters hielt. Aber er steckte zu fest im Holz und gab unter ihren verbu n denen Händen nicht nach. Erst als sie sich gegen den Pfosten stemmte und ihren ganzen Körper als G e gengewicht einsetzte, glitt das Messer endlich he r aus. Es schrammte über den Knochen. Einen langen Augenblick betrachtete sie es, dann schnitt sie damit meinem Vater lange Haarlocken ab und stopfte sie in ihre Tasche. Schließlich riss sie meinem Vater ein Stück vom Wams ab, wickelte die Klinge hinein und steckte den Dolch in ihren Gürtel.
Wir hatten weder Hacke noch Schaufel mitg e bracht. Da der Boden dort oben selbst nach solchen Regengüssen steinhart ist, wäre es auf alle Fälle t ö richt gewesen, ein einigermaßen ordentliches Loch graben zu wollen. Trotzdem schreckte mich der G e danke, diese Leichenreste auch nur einen Schritt weit zu tragen. Ich befürchtete, Aphra würde ihn auf i h rem eigenen Grund und Boden begraben wollen, n e ben ihren Buben. Aber sie sagte, sie ließe ihn lieber an Ort und Stelle liegen, neben der Grube der U n wins. Dadurch würde Christopher Unwin für a lle Zeit daran erinnert, welchen Preis er für seine G e rechtigkeit gezahlt habe. Und so verbrachte ich die nächste Stunde damit, Steine für einen Grabhügel zu sammeln. Wenigstens das war eine einfache Arbeit, denn unter dem tauben Grubengestein lagen viele große Findlinge. Als er hoch genug war, fing Aphra an, nach Ästen zu suchen, die sie mit Fetzen aus dem Saum ihres Unterrocks zusammenband. Ich dachte, sie wolle ein Grabkreuz bauen, aber als sie fertig war, sah ich, dass sie stattdessen eine Figur geformt hatte, die an eine Gliederpuppe erinnerte. Diese legte sie oben auf den Hügel. Ich betete weiter das Vate r unser und dachte, sie würde leise einstimmen. Aber als ich Amen sagte, murmelte sie weiter. Und das Zeichen, das sie zum Schluss machte, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Kreuz.
Von ihren Geistern bedrängt
An jenem Nachmittag weinte ich um meinen V a ter. Ich war in die Pfarrküche gegangen, um für El i nor eine Schale Eisenkrauttee zu kochen. Während ich dastand und darauf wartete, dass das Wasser kochte, kamen die Tränen, liefen mir übers Gesicht und li e ßen sich kaum mehr eindämmen. Seit Beginn der Pest hatte ich nicht genügend Raum zum Trauern gehabt, weder um meine Buben noch um mein ze r störtes Leben, das ich mir so schön ausgemalt hatte. Ein Leben, in dem ich beide zu ehrsamen Männern hatte erziehen wollen.
Trotz meines klatschnassen Gesichts und bebender Schultern versuchte ich, den Tee zuzubereiten. Ich hob den Kessel vom Kamineinsatz. Doch dann stand ich wie erstarrt da, unfähig, mich an die einfache A b folge von Handlungen zu erinnern, die ich als Näch s tes tun musste. Als Elinor hereinkam, stand ich i m mer noch reglos da. Sie nahm mir den Kessel aus der Hand, ließ mich hinsetzen, fuhr mir übers Haar und hielt mich fest. Zuerst sagte sie nichts, aber als mein Schluchzen verebbte, flüsterte sie: »Erzähl’s mir.«
Und das tat ich auch. Endlich. Alles. Das volle Ausmaß seiner Brutalität. Jede Vernachlässigung und jeden Missbrauch aus meiner einsamen Kindheit. Danach erzählte ich ihr, was ich über die Hintergrü n de seiner Verderbtheit in Erfahrung gebracht hatte, die gleichen Geschichten, die er vor den widerstr e benden Ohren eines verschreckten Kindes ausgekippt hatte. Eines Kindes, das sie nicht hatte hören wollen. Wie ihn als Junge die groben Kerle auf See verg e waltigt hatten, wie er gelernt hatte, so l ange Rum zu schlucken, bis es ihm egal war. Wie ihn ein Boot s manngehilfe ausgepeitscht hatte, ohne sich die Mühe zu machen, die neunschwänzige Katze nach jedem Hieb zu entwirren, sodass ein
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