Das Phantom der Schule
daß die Knickerbocker-Bande einen eigenen Waggon besetzte. Marco saß im Wagen hinter ihnen.
Lieselotte wollte schon zu ihm laufen, damit er nicht so allein war, doch es war zu spät. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Da Mittagszeit war, befand sich außer den fünf Kindern niemand in der Liliputbahn.
Die Freunde ließen sich den Fahrtwind über das Gesicht streichen und genossen die Erfrischung.
Es war kurz vor der nächsten Station. Die Lokomotive verlangsamte die Fahrt, und Lieselotte hörte plötzlich hinter sich einen leisen Aufschrei. Sie drehte sich um und traute ihren Augen nicht.
„Was machen Sie da? Lassen Sie den Jungen!“ rief sie entsetzt.
Erschrocken beobachteten die vier Knickerbocker, wie ein bulliger Mann mit einer spiegelnden Vollglatze neben Marcos Waggon herlief. Er hatte den Jungen am Arm gepackt und versuchte, ihn aus dem fahrenden Wagen zu zerren. Marco schlug wild um sich und biß den Mann in die Hand. Doch dieser schien keinen Schmerz zu spüren.
Als die Liliputbahn nur noch im Schrittempo dahinzuckelte, hob er den schmächtigen Jungen von der Bank, als wäre er ein federleichter Polster. Er warf Marco wie einen Sandsack über seine Schulter und rannte davon.
„Ihm nach! Wir müssen ihm nach!“ rief Lieselotte und sprang aus dem rollenden Waggon.
Axel setzte zu einem Supersprint an und hatte die anderen schnell abgehängt. Dafür näherte er sich Meter für Meter Marcos Entführer.
Der Koloß von Mann schnaubte und schnaufte wie eine Dampflok. Er überquerte die breite Allee-Straße und verschwand im Dickicht des Praterwäldchens.
Hier hatte er nun einen Vorteil, da er das Dornengestrüpp und die niederen Büsche einfach zertrampelte. Axel blieb mit seinen kurzen Beinen immer wieder hängen und stolperte zweimal über Wurzeln, die aus der Erde ragten.
Der Vorsprung des Glatzkopfes wurde größer.
Zwischen den Bäumen konnte Axel erkennen, daß der Mann auf eine Wiese trat und sie mit schnellen Schritten überquerte. Am anderen Ende tauchten einige Häuser und eine Straße auf.
Obwohl er kaum noch Luft hatte, setzte der Junge erneut zu einem Sprint an. Er mußte Marco helfen.
Der kleine Italiener schien sich nicht mehr zu wehren und hing kraftlos in den dicken Armen des Mannes.
„Was ... was tut er denn jetzt?“ schoß es Axel durch den Kopf. „Was ist da los?“
Der Entführer war neben einem parkenden Auto stehengeblieben und wurde plötzlich immer kleiner. Zuerst verschwanden seine Beine im Boden, dann sein runder Körper. Kurz bevor Axel die Stelle erreichte, war der Mann zur Gänze im Asphalt versunken.
Als der Junge keuchend näher stolperte, entdeckte er das Geheimnis.
„Wo ist er? Wo ist der Kerl hin?“ hörte er hinter sich die Stimme von Lieselotte rufen.
„Da hinunter ...!“ schnaufte Axel und deutete mit der Hand auf einen offenen Kanaldeckel.
„Was stehst du noch herum? Ihm nach!“ kommandierte das Mädchen.
Axel sah sie zweifelnd an. War das ihr Ernst?
Lilo stieß ihn zur Seite und stieg auf die Metallschlingen, die in den betonierten Kanalschacht eingelassen waren. Rasch verschwand sie in der Tiefe. Zögernd folgte ihr Axel.
Als die beiden jüngeren Knickerbocker nachkamen, war von Axel und Lieselotte nichts mehr zu sehen.
Im Labyrinth der Kanäle
Der schmale Kanalschacht mündete in einen breiten, unterirdischen Gang.
Mit der Zehenspitze tastete Lieselotte nach der nächsten Metallschlinge. Doch da war keine mehr. Sie fühlte, wie die Schachtmauer in die Rundung eines Gewölbes überging.
Das Mädchen warf einen prüfenden Blick nach unten und erkannte im Halbdunkel einen schmalen, gemauerten Weg unter sich. Daneben floß ein dunkler, übelriechender Bach.
Lilo ließ sich fallen und landete auf dem Beton. Als sie sich aufrichtete, rutschte sie aus und wäre um ein Haar in der stinkenden Brühe gelandet. Der Weg war nämlich ziemlich feucht und glitschig. Sie konnte sich dann aber wieder fangen und atmete erleichtert auf.
„Vorsicht, Axel, spring nicht, sondern laß dich von der letzten Sprosse langsam herunter“, rief sie dem Jungen zu, der über ihrem Kopf im Schacht auftauchte. Axel stand gleich darauf neben ihr.
„Verdammt dunkel“, brummte Lieselotte.
„Kein Problem!“ Lässig zog Axel eine Taschenlampe aus dem Hosensack. Sie hatte die Form eines Kugelschreibers, gab aber trotzdem sehr viel Licht. Der Junge hatte sie immer dabei.
„Ahhh!“ schrie Lilo auf, als Axel den Lichtkegel über den Boden streifen ließ.
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