Das Phantom im Opernhaus
sah Hans entsetzt an: »Was? Paula Dorfner hat das Halstuch an sich genommen? Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher! Ich habe es genau gesehen!« Hans klang eine Spur beleidigt über Pauls Zweifel.
»Aber das Halstuch …« Paul wusste nicht, wie er Hans – dem glühenden Bewunderer Irenas – die traurige Wahrheit beibringen sollte. Dass das Halstuch in Wahrheit niemand anderem als seinem Schwarm gehörte. Und dass die Maskenbildnerin es wahrscheinlich nur deshalb aufgehoben und eingesteckt hatte, um Irena zu schützen.
»Was ist mit Paulas Halstuch?«, wollte Hans wissen.
»Ach, nichts«, sagte Paul leise.
Missgestimmt bummelte er zurück in den Proberaum. Haas begann gerade damit, die anderen Akteure einzuweisen, während Irena verloren am Bühnenrand saß. Sie war in sich versunken und schien das Geschehen um sich herum nicht wahrzunehmen. Pauls Blicke wanderten zu ihren Händen, und verstohlen betrachtete er ihre dezent lackierten Nägel.
Als Paul am frühen Abend nach Hause kam, fühlte er sich abgekämpft. Er sehnte den Abschluss des Falls herbei, denn er fühlte sich als Ermittler wider Willen zunehmend unwohl. Er durfte die Augen nicht vor der Realität verschließen und wusste, dass nur noch ein Wunder Irena aus der Rolle des Todesengels befreien konnte. Selten war es ihm so schwer gefallen, einen Täter seiner gerechten Strafe entgegengehen zu sehen.
Sein Anrufbeantworter blinkte, Paul drückte die Wiedergabetaste. Hannahs Stimme klang genervt: »Hey, Mann! Warum gehst du denn nicht ans Handy? Darfst du das bei den Proben etwa nicht benutzen?« Da lag sie richtig, dachte Paul und hörte weiter zu. »Egal, ich muss dich jedenfalls sprechen. Ich glaube, es ist dringend.«
Etwas ratlos stand Paul vor dem Anrufbeantworter. Hannah wollte ihn sprechen und glaubte, es sei dringend? Was war denn das für eine seltsame Ausdrucksweise? Entweder etwas war dringend, oder es war eben nicht dringend! Neugierig geworden, nahm Paul sein Telefon aus der Ladestation und wählte Hannahs Nummer. Sie nahm nicht ab. Wahrscheinlich joggte sie oder saß im Kino.
Dann war es wohl doch nicht so wichtig, meinte Paul und stellte sich auf einen geruhsamen Abend vorm Fernseher ein. Beim Zappen erwischte er irgendwo eine Folge von Kojak. Die erinnerte ihn an sehr alte Zeiten und führte ihn gedanklich weit weg von der bedrückenden Gegenwart.
26
Der Morgen des großen Tages begann mit einer Flucht. Paul wollte die verbleibenden Stunden vor dem Opernball nutzen, um sich zu entspannen und sich nicht von der allgemeinen Hektik anstecken zu lassen, die dem Ereignis vorausging. Sein Part als Bühnenfotograf würde heute ohnehin erst in den Abendstunden beginnen.
Zunächst wollte er in aller Ruhe frühstücken, Zeitung lesen und seinen Gedanken freien Lauf lassen. Da er zu Hause Störungen durch ungebetene Besuche oder Anrufe befürchtete, zog es ihn in den Stadtteil St. Johannis, wo er sich im Café Fatal für ein amerikanisches Frühstück mit Spiegelei und Speck entschied. Beim Fatal handelte es sich – was der Name nicht vermuten ließ – um ein freundlich eingerichtetes, kleines Lokal. Es lag etwas abseits und versteckt inmitten von hübschen alten Wohnhäusern. Ein Zufluchtsort, an dem man normalerweise nicht gestört wurde. Normalerweise …
Er stach die Zinken seiner Gabel gerade ins Eigelb, als ihm jemand mit Wucht auf die Schulter klopfte. Das Ei spritzte ihm aufs Hemd, und er sah sich grimmig nach dem Verursacher des Malheurs um.
»Blohfeld?«, stieß er beinahe entsetzt aus. »Was zur Hölle suchen Sie hier?« Er vermied tunlichst die Frage: Wie haben Sie mich gefunden?
Der schmächtige Reporter mit der fahlen Gesichtsfarbe setzte sich zu ihm. »Ich habe Sie daheim nicht angetroffen, ebenso wenig im Goldenen Ritter. Da Sie aber ein Gewohnheitstier sind, musste ich nur Ihre wenigen verbleibenden Alternativadressen absuchen, um Sie aufzuspüren.«
Die Entscheidung für das Fatal erwies sich also als fataler Fehler, dachte Paul grimmig. »Sie hätten mich auch einfach auf dem Handy anrufen können«, gab er gereizt von sich.
»Hätte ich.« Blohfeld grinste feist. »Aber um Ihnen einen so heiklen Auftrag zu geben, musste ich Sie persönlich treffen.«
»Auftrag?« Paul mimte den Überheblichen. »Habe ich nicht mehr nötig. Ich bin beim Theater gut beschäftigt.«
»Ach ja? Das Honorar, das ich Ihnen biete, werden Sie in einem staatlichen Betrieb niemals bekommen! Wenn Sie den Job gut machen und
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