Das Phantom im Opernhaus
fühlte sich in die Ecke gedrängt. »Wie gesagt: Ich habe keinerlei Einfluss auf das Vorgehen der Polizei und auch nicht auf das der Staatsanwaltschaft.«
Ascherl deutete auf die Ampel: Sie zeigte grün für Fußgänger. »Kommen Sie«, sagte er aufmunternd. »Begleiten Sie mich ein Stück. Nehmen Sie sich kurz die Zeit und hören sich meine Sicht der Dinge an.«
Paul folgte Ascherls Einladung mit zwiespältigen Gefühlen. Sicher war es interessant, und viele hätten es wohl auch als eine Ehre empfunden, ein Gespräch mit dem großen Mäzen zu führen. Aber wollte Paul das wirklich? Egal, denn Ascherl machte nicht den Eindruck, als wollte er ihn so bald wieder entlassen.
Sie standen auf dem Vorplatz vor dem Haupteingang des stolzen Gebäudes, als Ascherl zu dozieren begann.
Wie Paul bereits bekannt war, sollte die Oper ursprünglich im Neu-Nürnberger Stil errichtet werden, aber damit zeigten sich viele Stadträte nicht einverstanden. Deshalb wurde der Berliner Baumeister Seeling, seinerzeit einer der gefragtesten Theaterarchitekten überhaupt, mit der Bürde belegt, im etwas protzigen barockisierenden Jugendstil zu bauen: Türmchen, Rundbogenfenster, Pfeiler und reichlich Zierrat. »Wir mögen heute darüber lächeln, aber in einer Zeit, in der selbst Bahnhöfe zu Prunkmonumenten wurden, musste Thalias Trutzburg den Bürgerstolz repräsentieren«, erklärte Ascherl. »Eine bourgeoise Stätte der Zuflucht aus dem grauen Industrie- und Büroalltag in den gesellschaftlichen Glanz der prachtvollen Foyers. Und wahrscheinlich wollte man damit auch den Münchnern mit ihren vielen Protzbauten imponieren.«
Sie gingen langsam über den Vorplatz, während sich Paul weitere intime Details der Operngeschichte anhörte: »Die Einweihung im Geburtsjahr der Salome und der Lustigen Witwe musste eine stolze Fete gewesen sein. Die Festwiesenszene aus dem dritten Akt von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg verlieh dem Fest die höheren musikdramatischen Weihen«, verkündete Ascherl. Allerdings besaß die Oper anfangs nicht das alleinige Hausrecht in dem üppig dekorierten Musentempel, der damals auch noch gar nicht Opernhaus hieß, sondern Neues Theater am Ring. Trotzdem hatten die Aufführungen der Oper Vorrang, denn für die Schöpfungen der Spätromantik, besonders die gigantisch dimensionierten Wagner-Dramen, war das alte Stadttheater am Lorenzer Platz zu klein geworden.
Die Nazis und der Krieg hatten der Oper schwer zugesetzt; es war eine große Leistung, dass sie seit den 1990er-Jahren fast wieder aussah wie früher. Ascherl machte eine weit ausholende Geste: »Das alles ist nur möglich geworden durch Spendengelder von Privatpersonen. Die Stadt allein hätte niemals die nötigen Finanzmittel aufgebracht.«
»Und einen großen Teil dieser Gelder haben Sie beigesteuert«, sprach Paul aus, was Ascherl mit seinem letzten Satz angedeutet hatte.
Dieser nickte. Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer sagte er: »Ja! Mein Herz schlägt für unser Opernhaus! Aber für mich ist es nicht damit getan, seine schöne Hülle vor dem Verfall zu bewahren. Der Inhalt ist entscheidend: Denn äußere Schönheitsoperationen allein können auf die Dauer nichts vertuschen.«
Paul war gespannt, auf wen oder was Ascherl damit anspielte. »Sind Sie denn mit der aktuellen Programmgestaltung nicht zufrieden?«, fragte er etwas unbedarft.
Ascherl schnaufte abfällig. »Unsere Annalen verzeichnen berühmte Namen von Anfang an«, eröffnete er einen weiteren Exkurs in die Historie – und Paul lauschte mit Respekt vor Ascherls Wissensfundus: Stargäste von Enrico Caruso bis Heinrich Schlusnus ergänzten einst das Ensemble. Der Spielplan wies zeitweise bis zu 20 Repertoire-Opern und klassische Operetten auf, dazu jeweils einige wichtige Novitäten. Es folgten ruhmreiche Jahre zwischen 1922 und 1938 unter Dr. Johannes Maurach, von denen die Nürnberger noch lange zehrten. Die Erstaufführungen von Pfitzners Palestrina und der Frau ohne Schatten fielen in diese Zeit.
»Das waren Meilensteine zum ganz großen Opernruhm!«, schwärmte Ascherl. »Und als Wagners Meistersinger 1950 in der zerbombten Stadt erstmals wieder im Opernhaus gespielt wurden, weckte die auf einen Rundhorizont gemalte Stadtsilhouette wehmütige Erinnerungen an Vergangenes.« In den 60er, 70er Jahren setzte Hans Gierster als Generalmusikdirektor neue Akzente: Spektakuläre Repertoire-Inszenierungen erregten bundesweit Aufsehen und provozierten Publikumsschlachten. Mit
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