Das Pharma-Kartell
aufzustehen, weil ich weiß, dass ich es nicht kann.
Es ist tatsächlich spät. Durch die Ritzen der Vorhänge stehlen sich Lichtstrahlen, brechen sich an der Schreibtischkante, und wo sie auf den schon recht abgetretenen Teppich fallen, entreißen sie ihm grelle, unglaubliche Farben. Es ist still, alle sind zur Arbeit gegangen, und ich muss auch aufstehen, wenn der Vormittag nicht vollends hin sein soll.
Mit dem üblichen Seufzer setze ich mich auf und sehe, wie akkurat ich meine Sachen hingelegt und aufgehängt habe. Wie ich das gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Dafür aber tauchen sehr klar und mit einem Schlag die Ereignisse von gestern in meinem Gedächtnis auf: der tote O’Sullivan, die kalten weißen Fliesen im Leichenschauhaus, die blendende Sonne am Kai, van Basten beim Surfing, die unverschämte Visage der Bulldogge, die Schlangen und der Basar. Und das Wichtigste: die Falle im San Benjamin Krankenhaus.
Jetzt ist etwas anderes vordringlich – ich muss den Brief des Ministers dechiffrieren und währenddessen Sophies Filmrollen entwickeln.
Ich setze mich an den Schreibtisch und mache mich ans Dechiffrieren. Eine halbe Stunde reicht, um den Brief in den Klartext zu übertragen und zu verbrennen. In Paris hat man im Großen und Ganzen geklärt, zu wessen Absatzgebiet Al Agadir gehört, und man teilt es mir mit. Bloß, dass die ermutigenden Worte, die mir der Minister schreibt, mich nicht eben sehr ermutigen, denn der Santana-Konzern ist einer der aggressivsten Pharma-Kartelle. Und er hat große Möglichkeiten – angefangen von einer Werbeabteilung, was die offizielle Tarnbezeichnung für seine Industriespionage ist, bis hin zu den engen Verbindungen zur Organisation von Fabio Medici, auch noch als Fra Medin bekannt. Eine Organisation professioneller Killer mit straffer Disziplin, die in internationalem Maßstab arbeitet. Sie gehört zu den Organisationen, bei denen Entführung, Erpressung und Mord ihren exakten Preis haben – da gibt es Tarife und Termine, sie zahlen ihren Kunden bei gelegentlichen Terminüberschreitungen sogar gewissenhaft Konventionsstrafen.
Ich stehe auf, um nachzusehen, wie weit die Entwicklung von Sophies Filmrolle gediehen ist, und dabei geht mir ein Gedanke durch den Kopf, der zwar ein bisschen bitter ist, mir aber dennoch ein Lächeln abnötigt. Ich weiß nicht, wie hoch nach Fra Medins Tarif das Leben von Leuten wie mir veranschlagt wird, vielleicht gibt es für Inspektoren aus anderen Ländern Sondertarife. Die Auseinandersetzung hier in Al Agadir ist für Santana keine sonderlich große Sache, und gegen uns sind ein paar seiner kleineren Agenten eingesetzt, aber sie stehen bestimmt mit irgendeinem Geheimdienst in Verbindung und sind gut mit Technik ausgestattet. Sie werden nicht lange überlegen, wenn sie beschließen, mich aus dem Weg zu räumen.
Die Filmrollen sind fertig und die Aufnahmen interessant, sogar interessanter, als ich erwartet hatte: Polettis Wagen, ein nicht mehr ganz neuer Mercedes, inmitten des Basargewühls geparkt. Danach hat etwas Sophies Aufmerksamkeit erregt – ein grauer BMW. Er kommt angefahren und sucht einen Platz in der Nähe. Nicht einen Platz schlechthin, sondern eine Position, von der aus er den Mercedes beobachten kann – das hat Sophie genau gesehen. Er quetscht sich recht unbequem hin, bleibt aber stehen, obwohl die Leute um ihn herum schimpfen.
Eine Großaufnahme. Hinter dem Lenkrad des BMW sitzt ein Mann, den ich sogar als schön bezeichnen würde. Aber es ist jene peinliche feminine Feinheit der Züge, die bei einem Mann ein Warnsignal ist. Dunkles, lockiges Haar, wohlgeformte Lippen, weiches Kinn, leicht gedunsene Lider, hinter denen sich ein aufmerksamer Blick verbirgt. Katzenhaftes Phlegma verbunden mit versteckter Energie und Unverfrorenheit. Diesen Mann habe ich noch nicht gesehen. Und ich kann seinen Beruf auch nicht annähernd bestimmen. Er kann ein reicher Kaufmann aus dem Nahen Osten sein oder blasierter Erbe eines auf verdächtige Weise erworbenen Reichtums oder ein Filmregisseur, der gekommen ist, um sich das Surfing anzusehen.
Er ist nicht wegen des Surfings da. Wir treten aus dem Kasino. Der BMW verlässt seinen Beobachtungspunkt und fährt los, Richtung Straße. (Hier hat ihn Sophie mit dem Jeep verfolgt, und der streitbare Klapperkasten hat gezeigt, was er kann. Er hat mit den 150 PS des Sport-BMWs mitgehalten.)
Der BMW auf dem Weg zum Villenhügel, Der BMW in günstiger Position, von der aus eine Villa im Auge
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