Das Programm
bahnte.
Megan fiel es schwer, sich auf das Buch zu konzentrieren, das vor ihr lag. Es handelte sich um eine Untersuchung über das Werk der Mönche von Fleury, eines kluniazensischen Klosters an der Loire, das von vielen bedeutenden englischen Klerikern besucht worden war. Nicht nur, dass das Buch in französischer Sprache verfasst war oder sein Autor eine Abneigung gegen Sätze von weniger als dreißig Wörtern zu haben schien. Damit konnte Megan umgehen. Seit ihrer Ankunft in Cambridge hatte sie die Bibliothek und ihre schwierigen Texte als eine Art Refugium emp funden, in dem sie Lenka und ihren brutalen Tod ein paar Stunden vergessen konnte. Deswegen hatte sie es heute früh so eilig gehabt, aus der Wohnung zu kommen. Sie hatte gehofft, die Erinnerung an das Messer und das Blut auf ihrem Kopfkissen würden sie nicht bis hierher verfolgen. Aber diesmal hatte es nicht geklappt. Das lag an Eric.
Nach dem Telefonat mit Chris hatte sie das Messer in eine Plastiktüte gelegt und tief unter ihrer Kleidung in einer Schublade versteckt. Das blutige Kopfkissen hatte sie zusammen mit dem Inhalt ihres Papierkorbs in eine andere Tüte gesteckt und in den Müllcontainer des Colleges geworfen. Sie hatte gerade zur Bibliothek aufbrechen wollen, als Eric anrief.
War es richtig, dass sie einem Treffen zugestimmt hatte? Seit acht Jahren ging sie ihm nun aus dem Weg, eine Entscheidung, die ihr zweifellos geholfen hatte, ihn zu vergessen. Aber eigentlich konnte es jetzt nichts schaden. Er war verheiratet, zwischen ihr und Chris entspann sich etwas, etwas Ernstes, wie sie hoffte. Nein, es konnte nichts schaden.
Warum war ihr dann der Mund so trocken? Warum konnte sie sich nicht auf das Buch vor ihr konzentrieren? Warum konnte sie sich die Gedanken an seine Stimme, sein Gesicht, seine Augen, seine Berührungen nicht aus dem Kopf schlagen?
Sie wusste, dass sie ihn treffen musste. Es war bestimmt richtig. Ein Schlussstrich, was immer das heißen mochte. Sie sah ihn vor sich: einen beleibten, geldgierigen Investmentbanker. Als Studenten hatten sie wenig gemeinsam gehabt: heute bliebe gar nichts mehr. Es würde ihr gut tun, Eric nach zehn Jahren wiederzusehen. Ihr würde endlich klar werden, dass sie ohne ihn besser dran war.
Um zwei Uhr gab sie es auf und ging ins College zurück. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie ihre kleine Wohnung betrat. Vor kaum zwölf Stunden war ein Fremder um ihr Bett geschlichen. Wie sollte sie heute Abend darin schlafen? Die äußere Tür abzuschließen, brachte nichts. Sie betrachtete ihr Sofa: Wenn sie es vor die Tür schob, bevor sie ins Bett ging, konnte sich niemand Zutritt verschaffen, ohne sie zu wecken. Und dann würde sie schreien. Hier wohnten mindestens hundert Leute in Hörweite. Das würde ihn sicherlich vertreiben.
Unruhig ging sie auf und ab. Sie bürstete sich die Haare. Sie kramte einen Lippenstift hervor, den sie nie benutzte, und legte ihn wieder fort. Was sollte das? Sie musste sich nicht hübsch machen für Eric.
Sie stand am Fenster und blickte in den Innenhof hinab. Unter der alten Platane breitete sich ein Teppich aus feuchten Schneeflecken und Krokussen aus. Noch nie hatte sie eine so große, knorrige Platane gesehen. Wahrscheinlich würden in ein, zwei Monaten die Blätter sprießen, aber im Augenblick war das schwer vorstellbar. Irgendwie wirkte der Baum viel zu altersschwach dafür. Sie blickte auf die Uhr. Drei. Von Eric nichts zu sehen.
Um fünf nach drei klopfte es leise an die Tür. Offenbar hatte sie ihn nicht bemerkt, als er über den Hof gegangen war. Sie zwang sich, einen Augenblick zu warten, bevor sie öffnete.
Er hatte sich kaum verändert. Die gleiche Größe. Die gleichen Augen. Das gleiche Lächeln.
»Hi, Megan.«
Die gleiche Stimme.
»Hi.«
»Kann ich reinkommen?«
»Oh, natürlich. Aber wenn du Lust hast, gehen wir irgendwo einen Tee trinken.«
»Mit Teegebäck, hoffe ich.«
»Das wird sich sicherlich einrichten lassen.«
»Hübsch«, sagte Eric, der sich in ihrem Wohnzimmer umsah.
»Ja, es ist nett. Ich habe Glück gehabt. Die meisten Doktoranden werden außerhalb des Colleges untergebracht. Ich hab sogar Telefon. Das ist hier offenbar ein richtiger Luxus.«
»Ich glaub es nicht! Du hast das Poster immer noch?«
Er zeigte auf eine Schwarzweißfotografie, die einen abgestorbenen Baum in der Wüste von Arizona zeigte. Die Ankündigung einer Ansel-Adams-Ausstellung aus dem Jahr 1989.
»Es gefällt mir eben. Wie du siehst, hab ich es
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