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Das Programm

Titel: Das Programm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ridpath
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abends um neun oder zehn noch mal los. Gelegentlich stolperte Chris dann am nächsten Morgen im Badezimmer über eine fremde Frau. Im Laufe des Sommers passierte das vier oder fünf Mal. Die meisten waren Amerikanerinnen, aber einmal war es ein Aupairmädchen aus Frankreich. Sie war die einzige, die Chris mehr als einmal sah. Attraktiv waren sie alle.
    Chris war nicht überrascht, dass Ians Erfolg bei Frauen, der schon in Oxford bemerkenswert gewesen war, hier in New York noch größer war. Er setzte seinen Akzent sehr bewusst ein, und aus irgendeinem Grund, der Chris nicht recht klar war, schienen Frauen seine Arroganz nicht abstoßend, sondern anziehend zu finden. Sicherlich kam keine von den Frauen, die er mitten in der Nacht anschleppte, auf die Idee, dies sei der Beginn einer wunderbaren Beziehung. Vielleicht aber, so überlegte Chris, war das der Hauptgrund, dass sie mitkamen. Ians Erfolge waren umso bemerkenswerter, weil damals die Aids-Angst in New York umging. Ian war der Meinung, das Risiko für Heterosexuelle werde überschätzt, und offenbar waren seine weiblichen Gäste derselben Ansicht. Duncan ließ besondere Sorgfalt beim Abwasch walten.
    Alex hatte große Probleme. Seine Mutter war krank. Sehr krank. Sie hatte Leukämie, und ihr Zustand verschlimmerte sich. Bis auf Eric hatte er niemandem davon erzählt, doch als die Krankheit unaufhaltsam fortschritt, wollte Alex möglichst viel Zeit bei ihr verbringen. Sie lag in einem Krankenhaus in New Brunswick. Jedes Wochenende fuhr er hin, manchmal sogar am Abend nach dem Unterricht. Er fehlte so oft es ging, aber natürlich hatte Calhoun nicht das geringste Verständnis dafür. Schon bald teilte er Alex mit, dass er beim nächsten Fehltag aus dem Programm flöge.
    Alex’ Vater war vor drei Jahren gestorben, bald darauf hatte sein Bruder begonnen, sich in der Welt herumzutreiben. Augenblicklich arbeitete er auf einem Segelschiff in Australien. Alex war empört, als ihm der Bruder mitteilte, er könne nicht in die Vereinigten Staaten kommen, um seine Mutter zu besuchen. Damit ruhte die ganze Verantwortung auf Alex, der schwer an dieser Last trug. Wenn man sie nicht mit Mitteln voll pumpte, litt sie unter großen Schmerzen, und Alex litt mit ihr. Es zerriss ihm das Herz, bei jemandem zu sitzen, der kaum sprechen konnte und sich so schrecklich quälte. Er ertrug es nicht, bei ihr zu sein, und er ertrug es nicht, nicht bei ihr zu sein. Lenka begleitete ihn bei einigen dieser Besuche, das schien ihm gut zu tun. Aber das Lernen kam zu kurz, und bald war er so weit abgerutscht, dass er Duncans Platz im letzten Viertel einnahm.
    Tamara kam noch einmal rüber. Es war das Wochenende des 4. Juli. Dieses Mal flog sie direkt nach Washington, und Chris nahm einen Amtrak-Zug, um sich dort mit ihr zu treffen. Es wurde ein herrliches Wochenende. Sie schauten sich das Feuerwerk auf dem Capitol Hill an, hörten die 1812 Ouvertüre und erkundeten die Stadt und ihre Restaurants, die in der Sommerhitze brüteten. Chris war hier viel entspannter: Tamara konnte ihre unliebenswürdigen Bemerkungen über Amerika und die Amerikaner machen, ohne dass Bekannte es hörten und ohne dass er sich Sorgen machen musste, sie könnte irgendwelche Freunde beleidigen.
    Duncans Glück überstand den Sommer nicht. Es zerbrach an einem feuchtheißen Samstagabend, zwei Wochen vor Ende des Programms. Chris lag in unruhigem Schlaf, nur mit einem Laken bedeckt, als die Wohnungstür mit lautem Knall ins Schloss fiel und ihn weckte. Er warf einen Blick auf den Wecker. Viertel nach eins. Dann hörte er ein Grunzen. Duncan. Chris drehte sich auf den Rücken und lauschte. Gewöhnlich bemühte sich Duncan, keinen Lärm zu machen, wenn er von Lenka kam. Wach geworden, fiel Chris noch eine weitere Ungewöhnlichkeit auf: Samstags blieb Duncan meist bei Lenka. Es gab keinen Grund für ihn, mitten in der Nacht ins Apartment zurückzukehren.
    Ein lautes Geräusch. Duncan fluchte. Noch ein Grunzen. Lärmend fiel ein Stuhl um. Das hörte sich nicht gut an. Chris wälzte sich aus dem Bett und zog sich seinen Bademantel an. Duncan stand schwankend im Flur. Sein Gesicht war weiß im grellen Flurlicht.
    »Alles in Ordnung, Duncan?«
    Duncan blies die Backen auf und versuchte, Chris zu fixieren. »Hab nur ein bisschen gebechert«, sagte er mit schwerer Zunge. »Werd zu Bett gehen. Fühl mich beschissen.«
    Er war sternhagelvoll. Chris gefiel nicht, wie Duncans Brustkorb arbeitete. Als versuche er krampfhaft, etwas

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