Das Prometheus Mosaik - Thriller
und bin auch keine geworden. Glaub mir, du würdest mich beneiden, wenn du wüsstest, wie schön dieses Leben war.«
»Na, ich weiß nicht«, gab Andrea zurück. »Ich bin schon eher für die freie Welt geschaffen, denke ich.« Sie blinzelte ihr zu.
Fio lächelte, verzichtete allerdings darauf, das Thema fortzusetzen. Es war wirklich schwer, vielleicht sogar unmöglich, jemand anderem zu vermitteln, wie sie aufgewachsen war. Man hatte sie im Stift nicht wie eine Schwester behandelt, sondern wie eine Tochter, die allen gehörte. In keiner »richtigen« Familie hätte sie sich besser aufgehoben und geborgener fühlen können.
Und nirgends hätte sie mehr lernen können.
Seit sie nicht mehr im Stift lebte, sondern, wie die madre superiora es beim Abschied ausgedrückt hatte, »in die Welt hinaus entlassen« war, um »Gottes Schöpfung zu erfahren«, war ihr klar geworden, wie viel sie wusste über diese »freie Welt«, wie viel mehr sie darüber wusste als die meisten von denen, die darin geboren und aufgewachsen waren – scheinbar aber ohne darin wirklich gelebt zu haben.
Das konnte zwar auch Fio nicht von sich behaupten. Aber sie hatte die Welt außerhalb der Mauern des Stifts ihr Leben lang vor Augen gehabt, sie beobachtet – durch Tausende von Fenstern, die ihr den Blick auf jeden Teil und alle Wunder dieser Welt, auf jeden Aspekt des Lebens und der Schöpfung ermöglicht hatten. Durch die vielen, vielen Bücher, die etliche Räume des Klosters angefüllt hatten. Dennoch waren es natürlich nicht so viele Bücher gewesen wie in der Universitätsbibliothek, dem Ort, wo sie sich am wohlsten fühlte und möglichst viel Zeit verbrachte. Weil es dort so sehr nach daheim roch. Und nach der Mutter Oberin, die für Fio vor allem Mutter gewesen war – die einzige, die sie je gekannt hatte, nachdem man sie, noch keine Woche alt, auf den Stufen des Sankt-Anna-Stifts nahe Florenz gefunden hatte. Manchmal, gerade in Momenten wie diesem, da ihr bewusst wurde, wie gesegnet sie im Grunde doch war, war Fio ihrer unbekannten leiblichen Mutter fast dankbar dafür, sie ausgesetzt zu haben. Hätte ihr ein reicheres Leben beschert sein können?
Nein, nur ein anderes …
Und da spürte sie sie dann doch, diese Neugier darauf, wie jenes andere Leben wohl verlaufen wäre.
»Einigen wir uns auf ›Genie‹?«, nahm Andrea den Faden Döberin wieder auf.
Während sie neben Andrea unter den zum Universitätshof hin offenen Arkaden schlenderte, zwinkerte Fio ihr zu. »Damit könnte ich leben. Er muss der größte Experte sein, den es auf seinem Feld gibt.« Fio ertappte sich dabei, wie schwärmerisch ihre Stimme wurde, wenn sie von Döberin sprach.
»Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der mehr über das Thema weiß«, fiel Andrea in das Loblied ein.
Fio spann den Faden weiter. »Weil er alles darüber weiß, was man bis heute darüber wissen kann.«
Döberin kannte alles, was je über Genetik und die einschlägige Forschung publiziert worden war. Er schien sämtliche Fakten nicht nur auswendig zu wissen, er konnte auch exakt sagen, wo welche Information zu finden war. Zum Vorwurf ließ sich ihm allenfalls machen, dass er von anderen, insbesondere von seinen Studenten, genau dasselbe nicht nur erwartete, sondern es voraussetzte. Fragen beantwortete er – wenn er sie überhaupt zuließ – nicht direkt, nur mit Titel- und Seitenangaben der entsprechenden Quelle, und manchmal wusste er sogar den genauen Absatz. Fio war sich sicher, dass er in den meisten Fällen auch noch die Zeile kannte; nur war es in ihrem Beisein noch zu keiner Frage gekommen, die aus Döberin eine derart präzise Auskunft abgerufen hätte.
Abgerufen …
Das Wort passte in diesem Zusammenhang sehr wohl.
Döberin machte bisweilen einen regelrecht robotischen Eindruck, den eines Automaten, der sich zu Vorlesungsbeginn einschaltete und genau bis zu deren Ende in Betrieb blieb. Dann war er abgelaufen, war die Batterie leer. Während einer Vorlesung merkte man nämlich nichts von Döberins Eigentümlichkeiten, da ging er einfach nur auf in seinen Worten und dem Verlangen, sein Wissen zu verstrahlen wie ein Stern sein Licht. Man merkte ihm an, wie durstig er einmal darauf gewesen sein musste, bis er alles, was es zu wissen gab, in sich aufgesogen hatte.
Nur um es zu speichern und an seine Studenten abzugeben?
Das kam Fio all ihrer Fantasie zum Trotz sehr unwahrscheinlich vor. Sie fand es seltsam, dass Döberin nie etwas … gemacht
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