Das Prometheus Mosaik - Thriller
nicht einmal gewusst hatte. Jedenfalls hatte sie inzwischen nicht mehr den Eindruck, mit diesem Studium nur den Herzenswunsch der Mutter Oberin zu erfüllen. Dennoch blieb das Gefühl, die Mutter Oberin projiziere vieles von dem, was sie selbst vielleicht hätte sein wollen oder sein können, auf sie. Als versuche sie, Fio zu einer anderen, »freien« Version ihrer selbst heranzuziehen. Gewiss nicht aus egoistischen Motiven heraus, sondern um Fio zu ermöglichen, was ihr versagt geblieben war, wozu sie sich jedoch in der Lage gesehen hätte.
Wie eine Mutter es für ihre Tochter wollte …
Und es geschah im Zuge dieser Überlegungen, dass Fio stets eine ganz bestimmte frevelhafte, weil sicher falsche Idee kam. Die nämlich, dass man sie betreffs ihrer Herkunft angelogen hatte, dass man sie nicht auf den Stufen des Stifts gefunden hatte, sondern dass sie im Stift zur Welt gekommen war, als Kind einer der Schwestern – oder der madre superiora selbst.
Das hätte vieles erklärt.
Allerdings war es ungeheuerlich, so zu denken. Es war … niederträchtig.
Und machte es für sie selbst denn einen Unterschied, wessen Schoß sie geboren hatte? War sie nicht in einer behüteten Welt aufgewachsen, wie es sie sonst nirgends geben mochte, der vielleicht einzigen Umgebung, in der Liebe wirklich mehr war als nur ein Wort? Waren die Schwestern nicht wie ebensolche zu ihr gewesen, wie Tanten und Freundinnen noch dazu? Und die Oberin nicht die beste, die fürsorglichste, die weitestblickende Mutter, welche ein Kind nur haben konnte?
Die Antworten auf diese Fragen standen für Fio unverrückbar fest …
Irgendwo schlug eine Glocke halb sieben. Fio schob die Gedanken, die sie so beschäftigt hatten, beiseite, wie ein Buch ins Regal. Jetzt war es Zeit, ein anderes aufzuschlagen; eines, das sie noch nicht kannte und auf das sie äußerst gespannt war.
Sie klopfte.
Der Laut ließ auch den letzten der imaginären Zisterzienser verstummen, deren Choral sie bis hierher begleitet hatte; was anderen ihr iPod war, waren Fio ihre Fantasie, ihr Erinnerungsvermögen, ihre unermessliche geistige Speicherkapazität.
»Herein.«
Döberins Stimme war so deutlich zu vernehmen, als gebe es die Tür nicht.
Überrascht war Fio auch, dass er nicht selbst zur Tür kam, um sie einzulassen. Mochte sie auch nicht wissen, weshalb Döberin sie zu sich gebeten hatte, so hatte sie doch eine sehr bestimmte Vorstellung davon gehabt, wie dieser Besuch ablaufen musste: Döberin würde die Tür eine Handbreit öffnen, mit einem Auge durch den Spalt linsen, dann den Kopf herausstrecken, sichernd nach links und rechts schauen und sie dann hastig durch die Tür winken, die er gerade weit genug aufhalten würde, um sie einzulassen.
In dieser Hinsicht enttäuschte er sie also schon einmal.
Fio drückte die Tür auf.
Von Döberins Büro hatte sie eine genaue Vorstellung: eine Höhle aus Büchern. Es würde vielleicht der eine Raum sein, in dem sie noch mehr Bücher fand als im Stift und im Besitz der Mutter Oberin. In der Mitte ein alter, ebenfalls mit Büchern, sehr alten Büchern, beladener und darum klein wirkender Schreibtisch, unter einer Haube aus gelblichem Licht, so abgezirkelt, dass es den dahinter sitzenden Professor kaum berührte und die Bücherwände ringsum nur erahnen ließ.
Fio trat ein. Und fand fast alles ganz anders vor, als sie es sich ausgemalt hatte.
Zwar war es im Zimmer wie erwartet nicht sonderlich hell. Das lag daran, dass die Deckenbeleuchtung nicht brannte und das durchs Fenster hereinfallende Licht des Aprilabends schon kraftlos war. Auch stand in der Mitte des Raumes ein Schreibtisch.
Aber sonst …?
Döberins Allerheiligstes – diese Bezeichnung kam Fio jetzt unpassend und lächerlich vor – war regelrecht leer. Die Wände verschwanden nicht samt und sonders hinter prall gefüllten Bücherregalen. Dieses langweilige Büro hätte ebenso gut das eines Buchhalters sein können.
»Enttäuscht?«, fragte Döberin. Er saß hinter dem Schreibtisch.
Ihre Miene musste Bände sprechen, wenn er diese Frage stellte. Wenn sie es recht überlegte, war sie allerdings nicht enttäuscht. Denn warum sollte sich ein Mann, der offenbar jedes Buch, das er je gelesen hatte, auswendig kannte, mit ebendiesen Büchern noch umgeben?
»Nein.«
»Nehmen Sie doch Platz, Signorina Gallo.« Döberin wies auf den schlichten Stuhl vor dem Schreibtisch, mit der linken Hand, seiner gesunden, ohne dass er dabei aufgehört hätte, ein Tonfigürchen um die
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