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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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eine Stunde am Tag – der Rest steht zu deiner freien Verfügung. Du kannst im Garten spazieren gehen oder die Bibliothek benutzen, ganz wie es dir beliebt, aber für diese eine Stunde wirst du alles geben, was du hast und kannst. Es ist ein Angebot, wie du es nirgendwo sonst bekommen wirst, sei dir dessen bewusst. Hollyhock ist das Beste, was dir dein Leben jemals bieten kann. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger, als dass du dir das vor Augen führst.«
    Ich nickte und fragte mich, worin der Haken bestand. Eine Stunde Folter? Entwürdigende Liebesdienste? Sollte ich Modell stehen für Miladys Versuche an der Staffelei? Ich war auf alles gefasst. Wenn es nur eine Stunde war, dann würde sie vorübergehen. Ich hatte schon viel Schlimmeres durchgemacht: Ich hatte mich auf Geheiß meines Lehrers drei Stunden lang in den Papierkorb stellen müssen, weil ich heimlich unter der Bank gezeichnet hatte; ich hatte im strömenden Regen vor der Tür warten müssen, während innen das Abendessen eingenommen wurde; ich hatte auf Erbsen gekniet … Ich konnte stillsitzen und schweigen, aber wer dachte, dass Waisenmädchen nur durch Strafen lernten, der irrte: Noch viel wichtigere Dinge hatte ich durch Mutproben gelernt. Wenn man mich nur einmal einen Handstand machen ließ …
    Rufus musste nicht wissen, was für Gedanken mir durch den Kopf gingen. Hauptsache, meine Finger gefielen ihm, Hauptsache, er gab mir den Schlüssel. Ich blinzelte und blickte dann wieder auf.
    »Komm mit«, sagte Violet. »Und über das, was du nun sehen wirst, schweige.«
    Ich nickte und wusste es besser, als sie daran zu erinnern, dass ich eigentlich noch einen halben Eid zu leisten hatte. Es ging zurück über den Flur in die Halle und auf der gegenüberliegenden Seite in einen anderen Flur bis zu einer Tür, die das Spiegelbild jener des Damensalons war. Plötzlich verspürte ich ein ungutes Gefühl, ein Drücken in der Magengegend und einen faden Geschmack im Mund, und ich hatte sehr viel Mühe, das Ganze nicht unter dem Namen » Angst « zusammenzufassen. Wer sagte mir denn, dass sich in dem Zimmer ein Geheimnis von dieser Welt verbarg? Es konnte ebenso gut eine entsetzliche Bestie sein, ein Scheusal, seit Jahrhunderten eingesperrt in Hollyhock, das nur von einer Jungfrau versorgt werden konnte. Und ich wollte weder Violet noch Sally, Clara, Lucy oder der Köchin etwas unterstellen, aber …
    Rufus steckte den Schlüssel in die Tür. »Tretet zurück«, sagte er, und jetzt wäre ich wirklich am liebsten weggerannt. »Nein, warte – schließ du auf, Florence. Wir wollen sehen, dass du das kannst.«
    Als er beiseitetrat und auf den Schlüssel deutete, fühlte ich mich, als stünde ich in Blaubarts Haus. Kein Diener durfte wissen, was hinter dieser Tür lag; wenn ich es verriet, würde man mich gar schauerlich bestrafen – und wenn ich es erst einmal gesehen hatte, gab es kein Entkommen mehr, dann war ich ein Mitwisser und musste bereit sein, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.
    Ich schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Besser, ich brachte es hinter mich. Ich war doch in Wirklichkeit ganz versessen auf Geheimnisse, und ich sollte mich geehrt fühlen, dass jemand bereit war, so etwas Bedeutsames ausgerechnet mit mir zu teilen. Der Schlüssel klemmte, ich musste meine ganze Kraft aufbringen, um ihn zu drehen, und das machte es nur noch spannender. Wer konnte schon sagen, wann diese Tür das letzte Mal aufgesperrt worden war? Vielleicht waren selbst Rufus und Violet noch nie dort drin gewesen – und die Bestie war hungrig …
    Endlich ging die Tür auf, mein Herz tat einen Hopser – und dann folgte Enttäuschung. Es war nur ein Zimmer. Kein Ungeheuer sprang mich an, kein Geist fuhr mir in den Körper, und was ich roch, waren nicht Moder, Tod und Verwesung, sondern nur Staub, Staub und Staub. Sehen konnte man auch nicht viel. Das Haus war symmetrisch aufgebaut, und es gab hier die gleichen Fenster wie in Violets Salon, die von knapp über dem Boden bis fast zur Decke reichten, aber sie waren von  schweren Vorhängen verhangen, durch die nur eine Idee von Licht hereinkam; etwas mehr fiel vom Flur durch die Tür und warf meinen Schatten auf den dicken Teppich am Boden. Ich sah Dinge im Raum stehen und an den Wänden, unförmig und fremd. Wie eingefrorene Gespenster standen die Möbel da, alle unter weißem Leinen versteckt, welches – zumindest dem Geruch nach – seinerseits wiederum mit einer Schicht grauen Staubs bedeckt

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