Das Puppenzimmer - Roman
war.
»Worauf wartest du?«, fuhr mich Rufus an. »Hinein mit dir!«
Ich gehorchte. Das Zimmer hatte mich nicht gefressen, während ich in der Tür stand, dann würde es das auch nicht tun, wenn ich einmal darin war. Kaum war ich über die Schwelle getreten, folgten mir auch schon Rufus und Violet, die Tür wurde zugezogen, und ich hörte den Schlüssel auf dieser Seite klicken. Da hatte es wirklich jemand eilig, zu vermeiden, dass die Dienerschaft auch nur einen Blick in dieses Zimmers warf!
»Zieh die Vorhänge auf!«, sagte Rufus.
Am liebsten hätte ich gefragt, ob das schon auf meine Stunde angerechnet wurde, aber ich wollte ja selbst wissen, was es mit dem Geheimnis auf sich hatte, also hütete ich meine Zunge, packte den nächstbesten Vorhang und zwang ihm meinen Willen auf. Verglichen damit, hatte sich der Schlüssel gedreht wie in Butter; die Gardine klemmte und hakte, und ich brauchte beide Arme, um sie endlich aufzubekommen. Eigentlich hätte ich Hilfe benötigt, um den Stoff hinter der Gardinenschnur festzumachen, aber ich wusste, dass ich gar nicht erst danach zu fragen brauchte. Die Geschwister schauten mir schweigend zu, wie ich Licht ins Zimmer ließ. Wussten sie, was ich da tat? Wenn die Vorhänge offen waren, konnte man doch auch von draußen –
Ich erstarrte. Das war eine Falle! So schnell ich nur konnte, riss ich den einen Vorhang wieder aus seiner Befestigung, zog den zweiten zurecht und drehte mich zu den schemenhaften Gestalten hinter mir um. »Ich zünde lieber die Kerzen an«, sagte ich. Gerade noch rechtzeitig!
»Immerhin, du kannst denken«, sagte Rufus. Er trat an die Tür, und kurz darauf brannten links und rechts Kerzen in silbernen Wandhaltern. Erst dachte ich, dass auch das wieder ein Zaubertrick von ihm war, aber stattdessen warf er mir eine Streichholzschachtel zu, die ich instinktiv aus der Luft fing. »Du kannst die restlichen Kerzen anzünden«, sagte er. »Und von den Vorhängen lässt du in Zukunft die Finger.«
Im Licht erkannte man nicht viel mehr als vorher. Alle Möbel in dem Zimmer waren mit Tüchern abgedeckt – die Kommoden an den Wänden, die Sessel und das große Sofa mitten im Zimmer. Darunter steckten wohl die gleichen Stücke wie im anderen Salon, nur sah man nichts davon.
»Soll ich das Leinen herunternehmen?«, fragte ich.
»Tu das«, antwortete Rufus. »Aber sei vorsichtig.«
Ich fing mit der ersten Kommode an, nahm eine Ecke des Stoffes in die eine Hand, die gegenüberliegende in die zweite, und faltete das Tuch zusammen, ohne den Staub, der sich darauf festgesetzt hatte, durch das ganze Zimmer zu wirbeln. Etwas stand auf der Kommode, und erst dachte ich, es wäre eine große Uhr, doch als das Möbelstück frei war, sah ich die Puppen. Die hintere Reihe stand, die vordere saß, mit steifen Beinen, die weit vom Körper abstanden wie bei einem Kind, das von seinen eigenen Knien noch nichts wusste. Ich sah in tote, bleiche Gesichter aus Porzellan; die gläsernen Augen glänzten im Kerzenschein, doch wirkten sie dadurch nicht lebendig, sondern gespenstig.
Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Ich sah Puppen mit dunklen Korkenzieherlocken, mit blonden Zöpfen, braunen Krausen; sie trugen Matrosenkleider, Leibchen, kariertes Kattun, einen asiatischen Kimono. Sie lächelten still vor sich hin, manche mit offenem Mund, in dem man winzige Zähne erkennen konnte, andere mit herzförmigen Lippen. Ihre Augen waren blau, braun, schwarz. Eine neben der anderen, und doch nahmen sie einander nicht wahr, sie starrten nur mich an, die Arme reglos nach mir ausgestreckt … Ich zählte 13 Puppen auf der Kommode. Im Leben hatte ich noch nie so etwas Gruseliges gesehen.
Ich drehte mich zu Rufus und Violet um, schon um diesen toten gläsernen Blicken auszuweichen, doch selbst dann fühlte ich sie noch in meinem Nacken. »Wo … wo soll ich das Tuch hinlegen?«, fragte ich, und mit einem Kloß im Hals fuhr ich fort: »Und die anderen Möbel, soll ich die auch abdecken?« Meine Angst wich dem Gefühl, betrogen worden zu sein. Warum nahm Rufus aus St. Margaret’s das einzige Mädchen mit, das keine Puppen mochte? Das war Absicht gewesen, oder etwa nicht?
»Du kannst die Laken nachher in die Waschküche bringen«, antwortete Violet, ohne mich anzusehen. Ihr Blick wanderte über meine Schulter die Reihe der Puppen entlang, genauso wie Rufus am Vortag uns Mädchen begutachtet hatte, eine nach der anderen, ohne irgendwo länger zu verharren. »Und ja, keines dieser
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