Das Puppenzimmer - Roman
nächsten Tage, Wochen, vielleicht Jahre kaum ändern sollte. Das Personal von Hollyhock war ein maulfauler Haufen – ich hatte auf vergnüglichen Tratsch gehofft, aber wie ich es schon befürchtet hatte, niemand verlor ein unnötiges Wort. Ich erfuhr lediglich, dass die Küchenmagd Evelyn hieß, denn es war ihre Aufgabe, den Tisch zu decken und hinterher das Geschirr abzuräumen.
Aber die Zofe, die aussah, als säße sie am falschen Tisch und hätte lieber mit den Herrschaften gespeist, blieb ebenso namenlos wie das dritte Zimmermädchen, und ich traute mich auch nicht, danach zu fragen – mit mir redete schließlich auch keiner, und es war nicht an mir, mit den althergebrachten Gebräuchen zu brechen. Gut, so althergebracht konnten die in Hollyhock noch nicht sein – vielleicht lag es auch gerade daran, dass alle noch ziemlich neu im Haus waren und sich deshalb auch noch keine richtigen Freund- oder Feindschaften entwickelt hatten. Es sollte nicht meine Sorge sein. Das hier unten war nicht meine Welt, ebenso wenig wie Rufus und Violet oben meine Welt waren. Wenn ich ehrlich mit mir war, waren meine Welt die Puppen. Kein schöner Gedanke, aber so war es.
Das Essen schmeckte großartig, vielleicht weil ich so lange nichts Richtiges bekommen hatte. In diesem Moment war mir egal, was die anderen von mir dachten oder ob ein Mädchen in weißem Rüschenkleid so verfressen sein durfte, ich nahm mir Nachschlag, zweimal. Ganz gleich, ob ich das durfte – dafür hatten sie am Vortag für mich mitessen können, und am Tag davor auch, es war also nicht so, dass ich ihnen etwas wegaß. Vielleicht würde es mir nie wieder so gut schmecken, aber dies war jedenfalls der allerbeste Eintopf meines Lebens. In St. Margaret’s hatte man den Niederen Töchtern nie etwas derart Gutes aufgetischt, aber natürlich mussten mit diesem Essen auch Leute wie Alan oder der Gärtner bei Kräften gehalten werden – ein Waisenmädchen hingegen, das zu gut genährt aussah, hatte sicherlich alle Chancen auf Barmherzigkeit und Adoption verwirkt. Wenn ich weiter so zulangte und so wenig schuftete, würde ich schnell meine elfengleiche Figur verlieren, aber das war gerade meine geringste Sorge. Es hatte schließlich bis zum nächsten Vormittag zu reichen.
Nach dem Essen stand ich kurz davor, Lucy anzubieten, ihr beim Spülen zu helfen, aber ich wusste, das war mit den Tellern nicht getan, und bis sie mit den Töpfen fertig war, kamen die vom Mittagessen der Herrschaften noch dazu, und dann deren Teller. Da war kein Ende abzusehen, und es war Lucys Aufgabe, für die sie, so hoffte ich zumindest, auch bezahlt wurde, während man mir für das, was ich machte, bis dato noch kein Geld angeboten hatte. Wollte ich das wirklich, für weiße Kleider und zwei Mahlzeiten am Tag arbeiten, nur damit eine unbezahlbare Sammlung noch wertvoller wurde? Das widersprach meinem Sinn für Gerechtigkeit – andererseits, ich saß in Hollyhock fest und hätte ohnehin keine Möglichkeit gehabt, das Geld wieder auszugeben. Und keiner meiner Zukunftsträume hätte von großen Reichtümern gehandelt … Vielleicht konnte ich Rufus nach etwas Lohn fragen, in einem halben Jahr oder so, wenn sie sich herabließen, mein Werk auch einmal zu begutachten, und wussten, dass ich gute Arbeit leistete.
So kehrte ich zu meinen Puppen zurück, mit einem etwas mulmigen Gefühl in der Magengegend, das ich lieber auf das seltsam eifrig wirkende Puppenkind schob als darauf, dass ich mich vermutlich überfressen hatte.
Zurück in meinem kleinen Reich, wiederholte sich das, was ich schon am Vortag getan hatte, und auch wenn ich immer noch keine funktionierende Uhr zur Verfügung hatte – ich hatte eine recht hübsche zwischen den Puppen auf dem Kaminsims gefunden, wusste aber nicht, wie ich sie wieder in Gang bringen sollte –, hatte ich doch das Gefühl, dass mir die Abläufe alle etwas schneller und besser von der Hand gingen. Ausziehen, Abmessen, Aufschreiben … Und doch war es anders. Die Puppe war anders.
Ich konnte es schlecht beschreiben, aber sie erschien mir irgendwie lebendiger. Es war nicht ihr Gesicht, das war genauso tot und reglos wie das vom Herbstkind. Aber wenn ich sie in meinen Händen hielt, so ganz ohne Kleidung, meine Handflächen an ihrem hautfarben lackierten Körper, schien unter der Oberfläche etwas zu leben. Das klang gruselig, aber so fühlte es sich nicht an – es war dieses warme, vertrauensvolle Gefühl, als ob man ein Ei in Händen hielt, das man im
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