Das Puppenzimmer - Roman
ihnen keine geben.«
Auf der einen Seite erleichterte mich das. Auf der anderen hieß es, Violet war nicht zufrieden mit meiner Arbeit, und das war eine Niederlage. »Möchten Sie auch meine Aufzeichnungen sehen?«
»Zeig sie meinem Bruder, wenn er wieder da ist.« Violets Stimme war abwesend, ihre Augen so fest auf die Puppe gerichtet, wie ich sonst nur die Küchenkatze von St. Margaret’s hatte eine Maus fixieren sehen. Der Vergleich passte auch auf Violets plötzlichen Stimmungsumschwung … Ob es in Hollyhock auch Katzen gab? Bestimmt. Ich hatte sie nur noch nicht gesehen. Jedenfalls gab es hier keine Spuren von Mäusen.
»Darf ich dann wieder gehen?«, fragte ich. Violet machte mich nervös, und die Puppe tat es noch mehr.
»Natürlich, Liebes«, sagte Violet, jetzt wieder die gleiche süße Lady, als die sie sich so gern gebärdete. »Denk an deinen Schlüssel. Ich werde gleich selbst abschließen.«
Ich glaubte ihr nicht so recht. Natürlich, es war Rufus, der mir immer wieder Fallen gestellt hatte, nicht sie. Aber ich konnte sie auf ihr Wort festnageln, wenn sie es brechen sollte, und die Puppen waren meine Zeugen. »Danke«, sagte ich nur.
»Und vergiss nicht«, flötete Violet mir zu, als ich schon an der Tür stand, »wenn dir noch einmal etwas Merkwürdiges auffällt an einer Puppe, sag mir nur Bescheid.«
Oh, das würde ich. Ganz gewiss. Aber erst einmal hatte ich noch jemandem etwas zu erzählen, nicht von der seltsamen Puppe, sondern dass Violet mich geschlagen hatte. Irgendwie dachte ich, Alan sollte das wissen, schon damit er sich von Violet fernhielt. Immerhin war er derjenige, der Lucy noch mit ihrem alten Namen anredete. Wenn das Violet zu Ohren kam … Ich machte mich gleich auf die Suche nach ihm. Doch ausgerechnet in diesem Moment hatte er keine Zeit für mich.
Er sah müde aus, als ich ihn endlich fand, erschöpft und verschwitzt. Ich erinnerte mich daran, wie früh er aufstehen musste und was für harte Arbeit er verrichtete – das fing vielleicht mit den Nachttöpfen an, war aber damit noch lange nicht zu Ende. Und einfach so auf dem Flur schwätzen, das konnte er sich erst recht nicht leisten.
»Ich würd ja gern«, sagte er bedauernd, »aber wir bekommen nachher eine Fuhre Eis, und da darf ich nicht trödeln, tut mir leid.« Er zwinkerte mir zu – was ich davon halten sollte, wusste ich nicht. Aber was es hieß, Eis zu transportieren, das konnte ich mir vorstellen. Es war schwer, es rutschte einem aus den Händen, und wenn man zu langsam war, schmolz es dahin. So wünschte ich Alan nur noch viel Glück, etwas enttäuscht, dass ich ihn nicht fragen konnte, was es mit Janets Namen auf sich haben mochte.
Und auch diejenige, die es am meisten von allen angegangen wäre, die arme Lucy, war zum Eistragen abgestellt worden. Wenn ich nicht schnell genug wegkam, musste ich sicherlich auch mit anpacken, und davor wollte ich mich unbedingt drücken. Nicht weil ich faul war, aber ich begriff langsam, wie viel Arbeit die Puppen in Wirklichkeit machten – nicht für den Körper, sondern für den Geist, und auch für die Seele.
Ich zog mich zurück auf mein Zimmer. Es war wirklich an der Zeit, dass ich anfing, ein Tagebuch zu schreiben. Zumindest in Geheimschrift.
Siebtes Kapitel
In dieser Nacht träumte ich. Das kam völlig unerwartet, denn normalerweise träumte ich tagsüber vor mich hin, wenn ich wach war und wusste, was ich wollte: Dann taten sich hinter meiner Stirn Welten auf, und ich konnte die größten Abenteuer erleben, die im wahren Leben für ein Waisenmädchen niemals zu erreichen waren. Aber nachts, einfach so, unkontrolliert … Niemals. Oder aber es konnte nichts Großartiges sein, denn ich erinnerte mich nie daran.
Vielleicht lag es an der Ausbildung, die mein Charakter in St. Margaret’s genossen hatte: Wenn man mit so vielen Mädchen in einem Saal schlafen musste, hatte man kaum eine Wahl, als sich hinzulegen, die Augen zuzumachen und erst am anderen Morgen wieder in die Welt zurückzukehren. Wer unruhig schlief, mitten in der Nacht wach wurde und dann von 20 sanft schnarchenden jungen Körpern umgeben war, war verloren. Unmöglich, danach wieder gut einzuschlafen. Ich war ein sicherer Durchschläfer, und da ich hier in Hollyhock ein eigenes Zimmer hatte und mein Bett so viel bequemer war als das in St. Margaret’s, hätte ich hier noch dreimal so gut schlafen müssen. Doch stattdessen träumte ich in dieser Nacht wie niemals zuvor.
Ich stand auf einem Seil, und
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