Das Puppenzimmer - Roman
Ganz im Gegenteil, es sollten noch Dinge geschehen, nach denen ich mich fragen musste, wie ich vor so einem bisschen Gelache hatte davonlaufen können. Aber das, was als Nächstes passierte, war am Ende auch meine eigene Schuld. Ich hätte die Puppe nicht stehlen müssen.
Es war ein paar Tage nach Janets Verschwinden. Alles fing damit an, dass mir eine Puppe auffiel, deren weißes Kleid mich an mein eigenes erinnerte. Es war mir letztlich doch deutlich lieber, mir eine Puppe nach irgendwelchen äußeren Kriterien auszusuchen, als dass ich das Gefühl haben musste, von der Puppe selbst ausgesucht worden zu sein. Ich nahm sie hoch und fand dann, dass auch ihre Haare meinen ähnelten. Niemand schrieb mir hier mehr vor, wie ich mein Haar zu tragen hätte, und damit hatte ich die Ära der Zöpfe und Häubchen endgültig hinter mir gelassen. Und da ich auch keine Zofe hatte, die mir das Haar hochgesteckt hätte – überhaupt fühlte ich mich noch zu jung für so eine Frisur –, trug ich meine Haare jetzt lang und offen. Tatsächlich waren sie ein wenig wellig, selbst nachdem die letzte Erinnerung an Zöpfe vergangen war, und ich wusste endlich, wie es war, die Stirn zu runzeln und mit den Ohren zu wackeln. Nur auf Ponyfransen musste ich weiterhin verzichten. Ein Mittelscheitel gab mir dafür das gewisse präraffaelitische Etwas, und das mochte ich auch. Und genau so eine Frisur trug diese Puppe.
Derartig alarmiert, sah ich mir auch das Gesicht der Puppe näher an. Grundsätzlich, fand ich, sahen Puppen sich untereinander doch immer sehr ähnlich. Sie hatten alle diese Pausbacken, dass sofort klar war, sie stellten keine Waisenmädchen dar, sondern nur solche Kinder, die auch reichlich gefüttert wurden. Ihre Wangen waren rosig, ihre Augenbrauen kräftig, durch den geöffneten Mund sah man ein paar kleine Zähne, und es waren vor allem Kleidung, Augenfarbe und Haare, wonach sich die Puppen unterscheiden ließen.
Aber diese Puppe, das bildete ich mir ein, ähnelte mir ein wenig. Natürlich hatte ich trotz Mrs. Doyles Kochkunst keine Pausbacken, aber dieses Puppenmädchen sah tatsächlich etwas schmaler aus als die anderen. Ihre Augen, ihr Mund – alles erinnerte an mein eigenes Gesicht. Jedenfalls bildete ich mir das ein, nachprüfen konnte ich es nicht, dafür hätte ich einen Spiegel gebraucht, und im Puppenzimmer gab es keinen mehr. Tatsächlich konnte man noch sehen, wo er einmal gehangen haben musste – es gab da einen hellen Fleck an der Wand über dem Kamin. Natürlich, der konnte auch von jedem beliebigen anderen Bild stammen, aber ein fehlender Spiegel kam mir gruseliger vor, und das passte einfach am besten zum Rest.
In meinem Zimmer hatte ich hingegen einen Spiegel. Alt und halbblind, aber immerhin, ein Spiegel, und ich konnte mich nach meiner Morgentoilette so nachdrücklich darin betrachten, als wäre ich plötzlich ein eitles Ding geworden, etwas, das man in St. Margaret’s nie und nimmer sein konnte. Der Spiegel war fest mit meinem Waschtisch verschraubt und würde sich auch sonst nicht einfach transportieren lassen, also musste die Puppe irgendwie zum Spiegel kommen.
Natürlich wusste ich, dass die Puppen ihr Zimmer nicht verlassen durften. Ich konnte nicht einfach eine von ihnen unter den Arm klemmen und mit ihr durchs Haus marschieren. Es gab also zwei Möglichkeiten: entweder die Idee abtun und mich nicht länger um die Frage scheren oder doch irgendwie unbemerkt die Puppe in den zweiten Stock schaffen. Ich entschied mich für Letzteres. Zeit, es den alten Schmugglern nachzutun. Niemand würde Verdacht schöpfen, dass ich unter meinen Unterröcken noch etwas anderes trug als Beine: Eine Puppe, unter mein Strumpfband geklemmt, konnte auf diesem Weg heile in mein Zimmer kommen.
So weit zumindest der Plan. Das erste Befestigen ging zwar ganz gut, aber schon nach den ersten beiden Schritten wusste ich, warum die Irene Adlers und Flora Macdonalds dieser Welt vielleicht Pistolen und Thronanwärter unter ihren Röcken durch die Gegend schmuggeln mochten, aber doch nur äußerst selten Puppen. Das dumme Ding wollte einfach nicht halten. Weder mit einem Arm oder gar beiden Armen, mit denen die Puppe sich regelrecht an meinem Bein festzukrallen schien – bewegte ich mich, rutschten sie einfach heraus. Schob ich die Füße hinters Strumpfband, dann verhakten sie sich zwar erfolgreich, aber bei jedem Versuch, einen Schritt zu tun, schlug die Puppe gegen mein Bein, ganz davon abgesehen, dass sie dabei auch
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