Das Puppenzimmer - Roman
um mich herum war es finster. Unter mir war kein Publikum, um zu applaudieren oder angsterfüllt den Atem anzuhalten – nur Stille. Wie hoch über dem Boden ich war, konnte ich nicht sagen – es gab nichts unter mir, keinen Grund, nichts außer einem Gefühl von Höhe. Unter meinen Füßen war kein Drahtseil, nur ein hauchdünner Seidenfaden, doch der trug mich und würde nicht reißen – das wusste ich instinktiv. Doch es blieb die Gefahr, dass ich das Gleichgewicht verlor und hinunterstürzte. Das Seil war so lang, dass ich sein Ende nicht sehen konnte, und alle paar Meter baumelte ein seltsames Ding daran, aus der gleichen Seide gesponnen wie das Seil, ein Kokon, so groß wie ein Menschenkopf.
In meiner Hand hielt ich nicht den roten Seidenschirm, mit dem ich in meiner Vorstellung sonst balancierte, sondern einen Korb, und wenn ich zu einem der Kokons kam, musste ich mich auf dem Seil niederknien, ihn pflücken und in meinen Korb legen, einen neben den anderen. Mit jedem, den ich von seinem sicheren Halt riss, fühlte ich, wie mich mehr und mehr kleine schwarze Gestalten umflatterten, Schmetterlinge mit Flügeln aus Dunkelheit. Ich konnte sie nicht sehen, nur spüren, aber erst, als ich meinen Korb verlor, ihm nachblickte, abrutschte und selbst in die Schwärze stürzte, begriff ich, dass auch ich auf meinem Rücken ein Paar großer Flügel trug. Ob sie so schwarz waren wie alles um mich herum oder weiß wie mein Kleid, ich konnte es nicht sagen, aber sie fingen mich auf und trugen mich hinauf in die Nacht –
Und dann wurde ich wach. Doch der Traum war immer noch bei mir, so klar und deutlich, als wäre er Wirklichkeit und würde noch andauern. Ich bildete mir sogar ein, die Ansätze der Flügel an meinem Rücken zu spüren, und wollte schon nachsehen, wie sie denn nun aussahen, bis mir klarwurde, dass nichts davon wahr sein konnte. Fast fand ich es schade. Ich hätte eigentlich gern ein Paar Flügel gehabt …
Nur einschlafen konnte ich einfach nicht mehr. Ich stand auf, ging zum Fenster und ärgerte mich. Einmal nachts durch Hollyhock schleichen, weil ich nichts Besseres zu tun hatte, gerne. Das war Teil des Abenteuers. Aber zweimal? Dafür hatte ich keinen Bedarf. Ich ließ frische Luft herein und legte mich wieder ins Bett, sah zu, wie die Vorhänge im sanften Wind flatterten, und roch und hörte den Regen, der draußen fiel. Es beruhigte mich ein wenig. Ich hatte schon befürchtet, in Hollyhock gäbe es nur gutes Wetter, und das konnte nicht sein. Eine Welt ohne Regen war mir unheimlich. Aber mit dem vertrauten Prasseln sollte ich doch wieder einschlafen können …
Ich wälzte mich hin und her. Egal wie ich lag, ich hatte Angst, meine Flügel zu verknicken, und je öfter ich mir sagte, dass dort keine waren, desto ferner entglitt mir der Schlaf. Wie ich es am Ende doch schaffte, wieder zur Ruhe zu kommen, konnte ich nicht sagen. Vielleicht fand ich mich damit ab, dass mir Flügel gewachsen waren, nur für diese Nacht, aber ich widerstand dem Drang, sie auszuprobieren und aus dem Fenster zu fliegen. Dem Traum, was des Traumes war, und dem Wachen das Wachen. Dass ich völlig durchgeschwitzt war, als ich am anderen Morgen hochschreckte, wunderte mich jedenfalls nicht weiter. Ich hätte gerne ein Bad genommen, ganz heiß und lang, das stellte ich mir großartig vor. Selbst ein Bad, bei dem man als Achte durch das nur noch lauwarme Wasser gezogen wurde, wäre schon viel wert gewesen. Hatte Hollyhock ein Badezimmer? Wenn ja, dann wusste ich, was ich tun würde, wenn ich das nächste Mal nicht schlafen konnte. Die Erlaubnis, mich » frei zu bewegen «, ließ sich ziemlich großzügig auslegen …
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück kam, war Rufus wieder da, und er sah aus, als wäre er nie fort gewesen. Vielleicht hatte seine Heimkehr mich nachts so plötzlich aus dem Schlaf hochschrecken lassen – ein Pferd, das wieherte, oder das Quietschen einer Tür. Als ich das Morgenzimmer betrat, blickte er mich so durchdringend an, dass ich zu Boden schauen musste, und einen kurzen unsinnigen Moment dachte ich, dass ihm gerade meine Flügel ins Auge gesprungen sein mussten.
»Da ist sie also«, sagte er, nicht zu mir natürlich, sondern zu Violet. »Wie hat sie es aufgenommen?«
»Sie ist sehr verständig«, antwortete sie, und ich nahm das als Kompliment. »Sie macht ihre Sache gut.«
»Und sie konnte die Puppe benennen?«
Violet schüttelte den Kopf. »Wir verlangen zu viel von ihr. Sie findet Namen,
Weitere Kostenlose Bücher