Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
der Stadt aufgetrieben worden war.
Auf Schwanders Zeichen hin setzten die Trommeln ein. Langsam schritt er rückwärts. Der Delinquent folgte ihm. Die Säbelspitze, die an seinem Brustbein ruhte, hinderte ihn daran, schneller zu gehen. Zweihundert Mann, hundert auf jeder Seite, bildeten eine Gasse, die gerade einmal zwei Schritte breit war. Kaum hatten sie die ersten Soldaten passiert, schlugen diese dem Gefangenen mit der Rute auf den Rücken. Schwander hatte die vergangenen Tage damit zugebracht, eigenhändig zweihundert Ruten aus Weidenbäumen zu schneiden. Dabei hatte er sorgfältig darauf geachtet, dass sie frisch und besonders biegsam waren. Zu trockenes Holz würde zu leicht brechen.
Unter jedem Schlag zuckte der Todgeweihte vor ihm zusammen, versuchte jedoch tapfer, seine Würde zu bewahren. Weder beschleunigte er seinen Schritt, noch ging er langsamer. Das Peitschen der Ruten und die unterdrückten Schmerzenslaute untermalten die monotonen Schläge der Trommeln. Es war der erste Spießrutenlauf, den Schwander befehligte, und er hatte sich beim Adjutanten erkundigt, mit wie vielen Läufen zu rechnen war. »Bislang hat keiner mehr als drei an einem Tag überlebt«, hatte der Adjutant mit einem höhnischen Grinsen geantwortet. »Die meisten schaffen nicht einmal die erste Gasse.«
Während sie so durch die Reihen der Schläger schritten, die den Verurteilten mit jedem Hieb dem Tode näher brachten, spürte Schwander ganz tief in sich die Nähe des Herrn. Er dankte Gott jeden Tag für seine Rettung. Bis zu dem Moment, als er beschlossen hatte, den blutenden Knaben nicht sterbend liegen zu lassen, hatte er sich heillos verirrt. In dem Labyrinth des landgräflichen Aue-Parks und in dem seines Daseins. Seit diesem Augenblick, als der Junge ihn aus dem Irrgarten herausgeführt hatte, war er vom Herrn für seine Entscheidung, auf den Weg der Rechtschaffenheit zurückzukehren, reichlich belohnt worden. Bald hatte er registriert, dass in der Garnison ein großes Maß an Undiszipliniertheit herrschte. Viele seiner Kameraden nahmen es mit der Ordnung nicht so genau. Korruption, Willkür und Ungehorsam bestimmten den Alltag. Doch dagegen war er eingeschritten: Nicht zuletzt seine regelmäßigen Denunziationen von Verfehlungen der Kameraden führten zu einer Verbesserung der Disziplin.
Mit seinem von religiösem Eifer getragenen Streben nach Rechtschaffenheit hatte er sich innerhalb kurzer Zeit bei den Vorgesetzten empfohlen. So war er schnell Rang um Rang befördert worden. Nachdem der alte Profos Wilhelm von Steugenberger – ein lang gedienter Soldat, der es im Dreißigjährigen Krieg zu Ehren gebracht hatte – verstorben war, hatte der Kommandeur ihm das Amt des Profoses angetragen. Schwander hatte sofort zugestimmt. Die Aufgabe des Profoses war für ihn wie geschaffen. Nun oblag es ihm, die Einhaltung der Ordnung innerhalb der Garnison zu garantieren. Hatte sein Vorgänger die Ausführung der Sanktionen, wie etwa das Stockschlagen, noch den Exekutanten überlassen, so bestand er darauf, so etwas selbst auszuführen. Mit jedem Schlag, mit dem er unrechtmäßiges Verhalten maßregelte, fühlte er, wie ihm selbst seine Sünden vergeben wurden.
Der Deserteur vor ihm kam ins Stolpern, fing sich aber sogleich wieder. Der Säbel in Schwanders Hand hatte eine kleine Wunde in die Brust des Mannes geritzt. Wieder trafen den Gefangenen zwei Rutenschläge auf den Rücken. Sein Blick war leer, und für einen kurzen Moment glitten die Pupillen nach oben und wichen dem Weiß der Augen. Wieder geriet der Delinquent ins Wanken. Mit dem Säbel versuchte Schwander, ihn am Fallen zu hindern, und stieß erneut in dessen Haut hinein, dieses Mal jedoch tiefer. Er zog seine Waffe zurück, um dem Mann keine schwere Verletzung zuzufügen. Im selben Moment verlor der Gefangene wieder das Gleichgewicht. Er griff nach rechts, bekam einen Weidenstrauch zu fassen und wollte sich daran festhalten. Der erschrockene Soldat, der das andere Ende hielt, ließ dieses jedoch los. Daraufhin strauchelte der Verurteilte. Stöhnend fiel er zu Boden und blieb auf dem Bauch liegen. Schwander beugte sich zu dem Sterbenden hinab und bemerkte, dass er noch atmete. Der Rücken war von tiefen Wunden übersät, aus denen Blut lief. In diesem Augenblick dachte Schwander an Jesus Christi und dessen Gang zum Kreuz.
»Er wird begnadigt!«, rief er. »Er hat sich geständig gezeigt und genug gebüßt! Möge der Nächste von euch, der sich überlegt, aus seinen
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