Das Rad der Zeit 0. Das Original: Der Ruf des Frühlings. Die Vorgeschichte (German Edition)
ausdenken konnten. Und wenn sie Freundinnen waren, würden sie das Schlimmste tun, was ihnen einfiel, und nur vor echtem körperlichem Schaden haltmachen, um einem bei der Vorbereitung darauf zu helfen. Beim Licht, wenn Myrelle und Siuan es schafften, sie in so kurzer Zeit sechsmal versagen zu lassen, welche Aussichten würde sie dann bei der eigentlichen Prüfung haben? Aber sie machte mit unerschütterlicher Entschlossenheit weiter. Sie würde bestehen, und zwar bei ihrem ersten Versuch. Das würde sie!
Sie machte erneut das zweite Gewebe, als sich die Tür schon wieder öffnete, und sie ließ die Ströme verschwinden und ließ Saidar zögernd los. Man verspürte immer ein Zögern, wenn man es loslassen sollte. Das Leben schien zusammen mit der Macht aus einem herauszufließen, die Welt wurde farblos. Aber sie würde sowieso keine Zeit haben, es vor ihrem Unterricht zu vollenden. Aufgenommenen war der Besitz von Uhren verboten, die für die meisten ohnehin unerschwinglich waren, und die Gongs, welche die Stunden verkündeten, waren innerhalb der Burg nicht immer zu hören, also war es besser, wenn man ein scharfes Gespür für die Zeit entwickelte. Aufgenommene durften sich genauso wenig verspäten wie Novizinnen.
Die Frau, die die Tür aufhielt, war keine Freundin. Tarna Feir kam aus dem Norden Altaras, aus der Nähe von Andor, und sie war noch größer als Siuan. Aber ihr hellblondes Haar war nicht der einzige Unterschied zu Myrelle. Aufgenommene durften nicht arrogant sein, aber ein Blick in diese kalten blauen Augen verriet einem, dass sie genau das war. Sie hatte auch nicht den geringsten Sinn für Humor, und soweit bekannt war, hatte sie niemandem auch nur einmal einen Streich gespielt. Tarna hatte den Ring ein Jahr vor Siuan und Moiraine errungen, nach neun Jahren als Novizin, und sie hatte als Novizin wenige Freundinnen gehabt und jetzt noch weniger. Es schien sie nicht zu stören. Sie war eine ganz andere Frau als Myrelle.
»Ich hätte mir denken können, dass ich euch beide hier finde«, sagte sie kühl. In ihr schien es nie irgendwelche Wärme zu geben. »Ich kann nicht begreifen, warum ihr nicht in dasselbe Zimmer gezogen seid. Habt Ihr Euch Siuans Zirkel angeschlossen, Myrelle?« Das alles kam in einem nüchternen Tonfall, aber in Myrelles Augen blitzte es auf. Das Licht um Siuan war verschwunden, doch Myrelle hielt noch immer die Macht. Moiraine hoffte, dass sie nicht so unbeherrscht war, sie auch zu benutzen.
»Tarna, geht!«, sagte Siuan mit einer schnellen verscheuchenden Geste. »Wir haben zu tun. Und schließt die Tür.« Tarna regte sich nicht.
»Ich muss mich beeilen, wenn ich zu meiner Novizinnenklasse will«, sagte Moiraine an Siuan gewandt. Tarna ignorierte sie. »Sie lernen gerade, wie man eine Feuerkugel macht, und wenn ich nicht da bin, wird es garantiert eine trotzdem versuchen.« Es war Novizinnen verboten, die Macht zu lenken oder gar die Quelle zu umarmen, wenn ihnen nicht eine Schwester oder eine Aufgenommene über die Schulter sah, aber sie taten es trotzdem, wenn sich die Gelegenheit bot. Neue Mädchen glaubten nie an die Realität der damit verbundenen Gefahren, während die älteren immer davon überzeugt waren, genau zu wissen, wie sie diese Gefahren vermeiden mussten.
»Man hat den Novizinnen den Tag freigegeben«, sagte Tarna, »also gibt es heute keinen Unterricht.« Es störte sie nicht im Mindesten, weggeschickt oder ignoriert worden zu sein. Nichts störte sie. Zweifellos würde Tarna die Stola beim ersten Versuch mit Leichtigkeit erringen. »Die Aufgenommenen sollen sich im ovalen Unterrichtssaal versammeln. Die Amyrlin will uns etwas verkünden. Eine andere Sache solltet ihr wissen. Gitara Moroso ist vor ein paar Stunden gestorben.«
Das Licht, das Myrelle umgeben hatte, erlosch. »Also das ist das Geheimnis, das ihr verborgen habt!«, rief sie aus. Ihre Augen blitzten heller auf als bei Tarna.
»Ich habe Euch gesagt, dass uns nicht erlaubt war, es weiterzusagen«, erwiderte Siuan. Die Antwort einer echten Aes Sedai. Sie reichte aus, um Myrelle zustimmend nicken zu lassen, wenn auch nur zögernd. Und dieses Nicken kam zögernd. Ihr Blick verlor keineswegs sein feuriges Funkeln. Moiraine rechnete damit, dass sie und Siuan in Kürze überraschende Begegnungen mit Eis haben würden.
Tarna hielt die Tür noch immer geöffnet – war die Frau der Kälte gegenüber immun wie eine Schwester? –, musterte Moiraine und dann Siuan. »Das stimmt; ihr beiden wart dort zum
Weitere Kostenlose Bücher