Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
Sprache gekommen. Man hatte ihnen den Mund zwangsweise öffnen müssen, damit sie ihren Treueeid leisteten, und sie konnte die Lüge von ihren Lippen ablesen. Jeder von ihnen würde die Chance beim Schopf ergreifen, sie zu stürzen, und alle sieben zusammen …
Es gab eigentlich nur einen Schluss, den sie aus all dem ziehen konnte: Gaebril hatte sich gegen sie gestellt. Aber bestimmt nicht, um statt ihrer Elenia oder Naean auf den Thron zu setzen. Nicht, wenn er mich schon hat, dachte sie bitter, und ich mich wie sein Schoßhündchen verhalte. Wahrscheinlich wollte er sie endgültig verdrängen und sich zum ersten König machen, den Andor je gehabt hatte. Und trotzdem verspürte sie noch immer den Wunsch, zu ihrem Buch zurückzukehren und auf ihn zu warten. Selbst jetzt sehnte sie sich noch nach seiner Berührung.
Erst als sie die gealterten Gesichter im Gang bemerkte, die runzligen Wangen und meist gebeugten Rücken, wurde ihr bewusst, wo sie sich befand: im Quartier der Pensionäre. Einige Diener kehrten zu ihren Familien zurück, wenn sie in die Jahre kamen, aber andere hatten so lange Zeit im Palast zugebracht, dass sie sich ein anderes Leben nicht mehr vorstellen konnten. Hier hatten sie ihre eigenen kleinen Wohnungen, ihren eigenen schattigen Garten und einen großen Hof. Wie jede Königin vor ihr half sie ihnen, ihre kleine Pension aufzubessern, indem sie ihnen gestattete, in der Hofküche Lebensmittel unter Preis zu erwerben, und in der Krankenstube des Palastes wurden ihre Wehwehchen behandelt. Mühsame Verbeugungen und unsichere Knickse folgten ihr, und dazu Gemurmel wie: »Das Licht leuchte Euch, meine Königin«, oder »Das Licht segne Euch, meine Königin«, und »Das Licht schütze Euch, meine Königin«. Sie dankte geistesabwesend. Nun wusste sie, wohin sie ging.
Linis Tür sah aus wie jede andere in dem grün gefliesten Korridor, mit einem sich aufbäumenden Löwen von Andor als einziger Verzierung. Sie dachte nicht daran anzuklopfen, bevor sie eintrat, denn sie war die Königin und das war ihr Palast. Ihr altes Kindermädchen war nicht da, aber der über einem kleinen Feuer im Backsteinkamin dampfende Teekessel sagte ihr, dass es nicht lang dauern könne, bis sie zurückkehrte.
Die beiden gemütlichen Zimmer waren ordentlich eingerichtet, das Bett war perfekt gemacht, die beiden Stühle haargenau vor dem Tisch ausgerichtet, auf dem exakt in der Mitte eine blaue Vase mit ein wenig Grünzeug stand. Lini hatte immer penibel auf Ordnung geachtet. Morgase hätte wetten können, dass selbst im Kleiderschrank im Schlafzimmer jedes Kleid im gleichen Abstand vom nächsten hing, so wie die Kochtöpfe im Schrank neben dem Kamin dieses Zimmers. Auf dem Kaminsims bildeten sechs auf Elfenbein gemalte Portraits in kleinen Holzständern eine gerade Linie. Wie Lini sich die von ihrem Gehalt als Kindermädchen hatte leisten können, konnte sich Morgase nach wie vor nicht vorstellen, aber natürlich war es ihr schlecht möglich, eine solche Frage zu stellen. Paarweise betrachtet, stellten sie drei junge Frauen dar und die gleichen drei als Babies. Elayne war dabei und auch sie selbst. Sie nahm das Portrait herunter, das sie mit vierzehn zeigte, ein schlankes Füllen von einem Mädchen, und konnte kaum glauben, dass sie einmal so unschuldig ausgesehen hatte. Sie hatte dieses elfenbeinfarbene Seidenkleid an dem Tag getragen, als sie zur Weißen Burg abreiste. Zu der Zeit hatte sie nicht einmal davon geträumt, einst Königin zu werden. Lediglich die vage Hoffnung darauf, zur Aes Sedai erhoben zu werden, hatte sie damals motiviert.
Geistesabwesend spielte sie an dem Ring der Großen Schlange an ihrer linken Hand herum. Den hatte sie sich, genaugenommen, nicht verdient, denn Frauen, die die Macht nicht lenken konnten, bekamen eigentlich einen solchen Ring nicht verliehen. Doch sie war kurz vor ihrem sechzehnten Namenstag zurückgekehrt, um im Namen des Hauses Trakand den Kampf um die Rosenkrone aufzunehmen, und als sie knapp zwei Jahre später den Thron tatsächlich bestieg, hatte man ihr den Ring überreicht. Es war Tradition, dass die Tochter-Erbin von Andor immer in der Weißen Burg ausgebildet wurde, und so gab man ihr in Anerkennung der langen und treuen Unterstützung der Burg durch Andor den Ring als Geschenk, ob sie nun die Macht benützen konnte oder nicht.
Sie stellte ihr Portrait zurück und nahm dasjenige ihrer Mutter herunter, die zu der Zeit vielleicht zwei Jahre älter gewesen war. Lini war das
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