Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
Horizont küsste, befanden sie sich bereits fünf Meilen außerhalb Caemlyns und ritten stramm in Richtung Korequellen.
In der Nacht fühlte sich Padan Fain am wohlsten. Als er durch die mit Wandbehängen geschmückten Gänge der Weißen Burg schlich, schien es ihm, als bilde die Dunkelheit draußen eine Tarnkappe, die ihn vor seinen Feinden verbarg, und das, obwohl die vergoldeten Spiegellampen ihr Licht in die Korridore warfen. Das Gefühl trog, so viel wusste er. Er hatte viele Feinde, und sie waren überall. Gerade jetzt in diesem Augenblick, so wie immer im wachen Zustand, konnte er Rand al’Thor fühlen. Er spürte nicht, wo sich al’Thor befand, aber dass er irgendwo dort draußen noch am Leben war. Immer noch. Diese Gabe, dieses Bewusstsein von der Existenz al’Thors, hatte er im Shayol Ghul erhalten, im Krater des Verderbens.
Sein Verstand schreckte vor den Erinnerungen an das zurück, was ihm dort angetan worden war. Da war er destilliert worden und neu geschaffen. Aber später dann, in Aridhol, war er wiedergeboren worden. Wiedergeboren, um alte und neue Feinde zu vernichten.
Noch etwas konnte er spüren, während er lauernd durch die nachtleeren Gänge der Burg schlich, etwas, das ihm gehörte, das ihm gestohlen worden war. In diesem Moment trieb ihn ein gierigeres Verlangen vorwärts als sein Wunsch, al’Thor sterben zu sehen oder die Burg zu zerstören, oder sich an seinem uralten Gegner zu rächen. Es war das hungrige Verlangen, endlich wieder ganz zu sein, vollständig.
Die schwere, getäfelte Holztür hatte dicke Scharniere und Eisenbügel, und das schwarze Eisenschloss war beinahe so groß wie sein Kopf. Nur wenige Türen in der Burg wurden jemals abgeschlossen, denn wer würde es wagen, mitten unter den Aes Sedai zu stehlen; doch ein paar Dinge in der Burg wurden als so gefährlich eingeschätzt, dass sie nicht einfach jedem zugänglich sein durften. Und die gefährlichsten überhaupt befanden sich hinter dieser Tür, von einem kräftigen Schloss behütet.
Er kicherte leise und nahm zwei dünne, gekrümmte Metallstifte aus der Manteltasche. Dann führte er sie in das Schlüsselloch ein, drückte ein wenig, suchte, drehte. Mit einem leisen Klicken schnappte der Riegel zurück. Einen Augenblick lang lehnte er sich mit heiserem Auflachen an die Tür. Von einem kräftigen Schloss behütet. Von der Macht der Aes Sedai umgeben und durch einfaches Metall geschützt. Zu dieser Stunde sollten selbst die Diener und die Novizinnen ihre Arbeit beendet haben, aber es könnte immer noch jemand wach sein und vielleicht vorbeikommen. Gelegentliche Wellen von Heiterkeit durchbebten ihn, als er die Dietriche in seine Tasche zurücksteckte und eine dicke Bienenwachskerze herausholte. Den Docht entzündete er an einer Ständerlampe in der Nähe.
Er hielt die Kerze hoch und schloss die Tür hinter sich. Nun konnte er sich umsehen. An den Wänden standen Regale, auf deren Brettern einfache Schachteln wie auch kunstvoll eingelegte Kästen aller möglichen Formen und Größen lagen, kleine Figuren aus Knochen oder Elfenbein oder einem dunkleren Material, und dazu Gegenstände aus Metall und Glas und Kristall, die im Kerzenschein funkelten und glitzerten. Nichts, was irgendwie gefährlich wirkte. Alles war mit Staub bedeckt. Selbst die Aes Sedai kamen nur selten hierher und anderen gestatteten sie das Betreten dieses Raums sowieso nicht. Das, was er suchte, zog ihn magisch an.
Auf einem in Hüfthöhe angebrachten Brett stand ein dunkler Metallkasten. Er öffnete ihn und enthüllte so drei Finger breite Bleiwände, die im Innern gerade noch Platz ließen für einen gekrümmten Dolch in einer goldenen Scheide, in dessen Heft ein großer Rubin eingesetzt war. Weder das Gold noch der blutrot schimmernde Rubin interessierten ihn. Hastig goss er ein wenig Wachs neben den Kasten und setzte die Kerze darauf, damit sie nicht umkippte, und dann hob er den Dolch heraus.
Er seufzte, als er ihn berührte, und streckte sich genießerisch. Er war wieder vollständig, eins mit dem, was ihn vor so langer Zeit an sich gebunden hatte, eins mit dem, was ihm auf ganz reale Art und Weise Leben verliehen hatte.
Eisenscharniere knarrten schwach, und er huschte zur Tür, wobei er die gekrümmte Klinge entblößte. Die blasse junge Frau, die gerade die Tür öffnete, hatte gerade noch Zeit, Augen und Mund aufzureißen und zu versuchen, sich durch einen Sprung nach hinten in Sicherheit zu bringen, doch schon schnitt er sie in die Wange.
Weitere Kostenlose Bücher