Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Taschentuch aus ihrem Ärmel, hob das staunende Gesicht der Frau mit einem Finger unter dem Kinn an und tupfte zart den Schweiß weg. »Ich weiß, dass dies sehr schwer für Euch ist, Cabriana«, sagte sie mit warmer Stimme, »und deshalb müsst Ihr Euch Mühe geben, um es mir nicht noch schwerer zu machen.« Mit einer sanften Berührung wischte sie eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn der Frau. »Hättet Ihr gern etwas zu trinken?« Sie wartete nicht erst auf eine Antwort, sondern gebrauchte die Macht, und eine verbeulte Metallflasche schwebte von dem kleinen Tisch in der Ecke hoch und direkt in ihre Hand. Die Aes Sedai wandte den Blick nicht von Semirhage, aber sie trank gierig. Nach ein paar Schlucken nahm Semirhage die Flasche weg und ließ sie auf den Tisch zurückschweben. »Ja, das ist besser, nicht wahr? Denkt daran, macht es Euch nicht selbst zu schwer.« Als sie sich abwandte, sprach die Frau wieder mit rauer Stimme: »Ich spucke in die Milch Eurer Mutter, Schattenanbeterin! Hört Ihr mich? Ich …«
Semirhage hörte nicht mehr hin. Zu jeder anderen Zeit hätte das ein warmes, angenehmes Gefühl in ihr ausgelöst, weil sie nun wusste, dass der Widerstand der Patientin noch nicht ganz gebrochen war. Die reinste, erhebendste Freude bereitete es ihr, wenn sie Trotz und Würde in ganz hauchdünnen Scheibchen abschneiden konnte, und dann zu beobachten, wie dies dem Patienten bewusst wurde und er oder sie verzweifelt und umsonst versuchte, sich noch an die kümmerlichen Reste zu klammern. Jetzt blieb aber keine Zeit dafür. Sorgfältig legte sie noch einmal ihr Gewebe um die Schmerzzentren in Cabrianas Gehirn und band es ab. Normalerweise wollte sie persönlich darüber wachen, doch diesmal war Eile geboten. So löste sie die Wirkung ihres Gewebes aus, gebrauchte die Macht, um das Licht zu löschen, und dann ging sie und schloss die Tür hinter sich. Die Dunkelheit würde auch einen Teil zum Erfolg beitragen. Allein, im Dunklen und dann diese Schmerzen …
Unwillkürlich gab Semirhage draußen einen enttäuschten Laut von sich. In dieser Art der Behandlung lag einfach keine Perfektion; es fehlten alle Feinheiten. Sie hasste es, so hetzen zu müssen. Und dann auch noch die ihr anvertraute Patientin alleinlassen zu müssen! Das Mädchen war willensstark und verstockt, die Umstände waren schwierig.
Der Korridor war beinahe genauso trostlos wie die gerade verlassene Zelle, einfach ein breiter, schattendüsterer, in den Stein gehauener Stollen, dessen in der Düsternis verschwimmende Seitengänge sie gar nicht erst erkunden wollte. Nur zwei andere Türen waren in Sicht, von denen die eine in ihr augenblickliches Quartier führte. Die Gemächer waren bequem genug, soweit sie sich darin aufhalten musste, aber sie ging jetzt trotzdem nicht dorthin. Shaidar Haran stand nämlich vor dieser Tür, schwarz gekleidet und in Dämmerung gehüllt wie in eine Rauchwolke, und so unbeweglich, dass es wie ein Schock wirkte, als er zu sprechen begann. Seine Stimme klang wie das langsame Zermahlen von Knochen: »Was hast du erfahren?«
Der Ruf zum Shayol Ghul hatte in einer Warnung des Großen Herrn gegipfelt: WENN DU SHAIDAR HARAN GEHORCHST, GEHORCHST DU MIR. WENN DU SHAIDAR HARAN NICHT GEHORCHST … Sosehr sie diese Warnung auch ärgerte, war es nicht notwendig gewesen, ihr mehr zu sagen. »Ihren Namen. Cabriana Mecandes. Ich konnte in dieser Eile wohl kaum mehr in Erfahrung bringen.«
Er glitt auf diese augenverzerrende Art durch den Gang, der ebenholzfarbene Umhang starr wie immer herabhängend. Er wirkte wie die Materie gewordene Verneinung aller Bewegung. Im ersten Augenblick stand er wie eine Statue zehn Schritt entfernt, und im nächsten ragte er über ihr auf, sodass sie nur entweder zurückweichen oder sich den Hals verdrehen konnte, um in dieses leichenblasse, augenlose Gesicht hochzublicken. Zurückweichen kam überhaupt nicht infrage. »Du wirst ihr alles Wissen vollständig entringen, Semirhage. Du wirst sie ausquetschen – ohne jede Verzögerung – und mir dann jede Kleinigkeit berichten, die du erfahren hast.«
»Ich habe dem Großen Herrn versprochen, dass ich das tun würde«, sagte sie ihm mit kalter Stimme.
Blutleere Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Das war seine einzige Antwort. Er wandte sich ruckartig um, glitt durch Zonen tieferen Schattens im Gang und war dann mit einem Mal verschwunden.
Semirhage wünschte sich, sie wisse, wie die Myrddraal das anstellten. Es hatte nichts mit der Macht
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