Das Rätsel der dritten Meile
entfernte sich der Sanitäter, und der Pathologe wandte sich an Morse. Seine Stimme klang ungewöhnlich ernst: «Du hast da wirklich einen unangenehmen Fall am Hals, Morse. Ich glaube, deswegen wäre es ratsam, wenn wir ihn uns jetzt gleich noch einmal zusammen ansehen würden, während wir hier in situ sind sozusagen — du verstehst, was ich sagen will. Du hast doch, soviel ich weiß, mal Klassische Philologie studiert, oder? Weißt du, ich mache immer wieder die Erfahrung, daß man bestimmte Indizien nur vor Ort entdecken kann, weil sie, wenn die Leiche endlich auf meinem Tisch landet, längst verschwunden sind.»
«Ach, weißt du, Max, ich glaube eigentlich nicht, daß das wirklich notwendig ist. Nimm du ihn dir noch einmal gründlich vor — das wird schon reichen.»
Der Pathologe legte Morse mitfühlend eine Hand auf die Schulter. «Ich verstehe dich gut. Er sieht wirklich grauenerregend aus. Aber trotzdem — zwei sehen mehr als einer. Ich bin nicht unfehlbar; es ist, wie du weißt, durchaus schon vorgekommen, daß ich etwas nicht bemerkt habe. Und...»
«Schon gut. Aber vorher brauche ich einen Drink.»
«Hinterher. Versprochen. Ich kenne den Wirt.»
«Ich auch.»
«Also einverstanden?»
«Einverstanden.»
Der Pathologe zog die Plane weg. Morse, der sich nicht in der Lage sah, noch ein zweites Mal den Anblick des zerfetzten Halsstumpfes zu ertragen, hielt seinen Blick krampfhaft auf die Schulterpartie und den Rumpf gerichtet — den Teil des Körpers, den unversehrt zu lassen der Mörder (Morse fühlte, wie sich so etwas wie Jagdinstinkt in ihm zu regen begann) offenbar für ungefährlich erachtet hatte. Der Torso war mit einem formellen dunkelblauen Nadelstreifenjackett bekleidet, das einmal Teil eines Anzugs gewesen war, denn die Hose, oder besser die Reste der Hose, waren aus demselben Material. Unter dem Jackett war ein weißes Hemd zu sehen sowie eine auf merkwürdige Art und Weise gebundene, rostrote Krawatte. Als der Pathologe das durchweichte Jackett vom Rumpf zog, überlief Morse unwillkürlich ein Frösteln.
«Brauchst du die Hosen auch, ich meine, was von ihnen noch übrig ist?» erkundigte sich der Pathologe.
Morse schüttelte den Kopf. «Aber du kannst mal nachsehen, ob er was in den Taschen gehabt hat.»
Der Pathologe fuhr beherzt mit der Hand in die rechte und in die linke Hosentasche, doch kam er bei beiden unten mit den Fingern wieder heraus. Bedauernd schüttelte er den Kopf. Morse fühlte, wie Übelkeit in ihm aufstieg.
«Vielleicht in seiner Gesäßtasche?» fragte er mit schwacher Stimme.
«O ja!» Der Pathologe hielt triumphierend ein mehrfach gefaltetes Stück Papier in die Höhe. «Siehst du jetzt, wie richtig mein Vorschlag war, daß wir ihn uns an Ort und Stelle beide gemeinsam noch mal ansehen sollten?» Er reichte Morse das durchweichte Blatt.
«Das hättest du später alleine auch gefunden», sagte Morse mürrisch.
«So, meinst du? Wer von uns beiden ist denn hier der Kriminalist? Ich werde nur dafür bezahlt, mir Leichen anzusehen — und nicht, um aus irgendwelchen Hosentaschen Papierbrei zutage zu fördern. Ich hätte diese Hose, ohne einen Blick an sie zu verschwenden, ans Obdachlosenhilfswerk gegeben. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, wären in Anbetracht ihrer relativen Kürze die Pfadfinder wohl die geeigneteren Empfänger gewesen.»
Obwohl ihm immer noch flau war, mußte Morse grinsen. Wenn es nach ihm ging, so hatten sie sich jetzt lange genug mit der Leiche hier beschäftigt. Hoffentlich fiel Max nicht noch irgend etwas ein, von dem er meinte, daß er es sich genauer ansehen sollte.
«Sind wir jetzt mit ihm fertig?»
Der Pathologe nickte. Morse war so erleichtert, daß er sich sogar getraute, seinen Blick über den Rumpf hinaus auf die Arme zu richten.
«Mit Armen läßt sich in der Regel nicht viel anfangen», bemerkte der Pathologe, dem nicht entgangen war, daß Morse’ Interesse einen neuen Gegenstand gefunden hatte. «Zähne wären gut, aber darauf müssen wir ja, so wie die Dinge liegen, leider verzichten; sehr nützlich wären unter Umständen auch...»
Morse wartete das Ende seiner müßigen Überlegungen nicht ab, sondern sagte schroff: «Hör auf zu reden, und schieb ihm lieber mal die Ärmel hoch.»
«Na, hoffentlich nehme ich da nicht Haut mit. Die löst sich manchmal ab wie nichts, hängt ganz davon ab, wie lange...»
«Kannst du mich damit nicht verschonen? Du weißt doch, daß ich so etwas nicht hören kann.»
Der Pathologe
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