Das Rätsel der dritten Meile
gehen Sie mir mit Ihrer Naivität wirklich auf den Wecker... Natürlich habe ich es mir ausgedacht, was denn sonst! Von den fünf Männern, die in die Sache verwickelt waren, ist schließlich keiner mehr am Leben; es gibt also niemanden, den ich hätte fragen können. Ich habe mir große Mühe gegeben, daß alles, was ich mir, wie Sie so schön sagen, ausgedacht habe, mit den wenigen Fakten, die wir kennen, übereinstimmt. Und außerdem habe ich versucht, bei meiner Rekonstruktion dessen, was vorgefallen ist, den Charakter der einzelnen Männer zu berücksichtigen. Aber wenn Ihnen meine Version nicht gefällt — Lewis, ich bin gerne bereit, mir von Ihnen Ihre eigene Lesart der Ereignisse anzuhören.»
Der gereizte Ton deutete, wie Lewis aus Erfahrung wußte, daraufhin, daß Morse sich seiner Sache alles andere als sicher war, und er bedauerte bereits, die Frage gestellt zu haben. Eines allerdings mußte er unbedingt noch wissen: «Glauben Sie denn wirklich, Sir, daß Browne-Smith der Mann war, einen Mord zu begehen?»
«Er war nicht der Typ des geborenen Killers, wenn es das ist, was Sie meinen. Aber das tiefe Geheimnis dieses Falles ist es ja gerade, daß ein Mann, nämlich Browne-Smith, so viele unerklärliche Dinge getan hat. Ich nehme an, daß sich sein Verhalten in der letzten Zeit zum großen Teil auf seine Erkrankung zurückführen läßt. Ich habe neulich mit dem Direktor der medizinischen Abteilung der Bodleian Library telefoniert und mich von ihm über den Krankheitsverlauf bei Hirntumoren unterrichten lassen. Dabei habe ich erfahren, daß die mögliche Folge eines Tumors eine Persönlichkeitsveränderung ist, und zwar eine Persönlichkeitsveränderung gravierender Art. Wer weiß...» sagte er leise und mehr zu sich selbst, «vielleicht hätte ich ihm doch zuhören sollen, was er mir über Olive Mainwearing erzählen wollte. Vielleicht hätte mich das ein wenig vorbereitet...»
«Olive Mainwearing?»
«Niemand, den Sie kennen», sagte Morse. «Kehren wir zurück zu Browne-Smith. Wie ich schon sagte — ganz sicher hat seine Krankheit Einfluß gehabt auf seine Gefühle und sein Handeln, andererseits ist er wohl schon immer jemand gewesen — Sie brauchen nur an seine langjährige Feindschaft mit Westerby zu denken — der, wenn er seinen Ehrgeiz durchkreuzt glaubt, zu tiefem, unversöhnlichem Haß fähig war. Eines hat mir diese Geschichte jedenfalls wieder gezeigt: Alkohol und Frauen sind noch vergleichsweise harmlose Leidenschaften. Aber das nur nebenbei. Erinnern Sie sich übrigens, Lewis, daß Sie, als wir uns vor einiger Zeit über den Fall unterhalten haben, meinten, die Beine des Toten könnten deshalb abgetrennt worden sein, weil er einen verstümmelten Fuß gehabt habe, mittels dessen man ihn hätte identifizieren können? Als eine Möglichkeit, wie er sich diese Verstümmelung zugezogen haben könnte, war Ihnen eingefallen, daß er beim Schwimmen vor den Bermudas in die Schraube eines Außenbord-Motors geraten sein könnte. Ich weiß, daß diese Bemerkung damals nicht ganz ernstgemeint war, aber sie brachte mich auf eine Idee; und ich ließ noch einmal den Kanal absuchen. Wie sich jetzt herausgestellt hat, muß die Leiche, nachdem man sie, ihres Kopfes und ihrer Hände beraubt, in den Kanal geworfen hat, tatsächlich mit den Beinen in eine Schiffsschraube geraten sein, die dann sozusagen den Rest besorgt hat. Deswegen übrigens war der Schnitt so glatt und sauber. Der Pathologe hatte in seinem Bericht ja sogar vermutet, daß unter Umständen jemand am Werk gewesen sein könnte, der sich beruflich mit solchen Dingen beschäftigt — ein Fleischer oder ein Chirurg etwa. Aber ich bin noch nicht ganz fertig mit Browne-Smith; ich möchte noch etwas zu dem Brief sagen, den er uns — oder besser mir — geschrieben hat. Er hat ihn wahrscheinlich noch Sonntag nacht, gleich als er aus Thrupp zurück war, verfaßt. Aber warum? Schlug ihm plötzlich das Gewissen? Genauso rätselhaft ist, weshalb er, um mir den Brief zu übermitteln, die Bank zwischenschaltete. Wenn er Zeit gewinnen wollte, so hätte er den Brief ja nur entsprechend später einzuwerfen brauchen... Wie auch immer. Der Inhalt des Briefes war jedenfalls sehr aufschlußreich, so als wolle er ungeachtet aller Finten und Tricks, die er sich zwischenzeitlich dann doch wieder ausgedacht hat, letztendlich, daß wir die Wahrheit erfuhren... oder als wolle das jedenfalls ein Teil von ihm.»
«Die Psychologen haben für so ein Verhalten ein Wort,
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