Das Rätsel der Fatima
Schweigen. Er wollte nicht mehr auf sie hören, seine Gedanken nicht mehr von ihrem Gift verseuchen lassen – wenigstens dieses eine Mal nicht.
»Fühlst du dich noch stark genug, um zu reiten?«, fragte Dschinkim.
Beatrice umfasste ihren Bauch. Neununddreißigste Woche. Es war riskant, zweifellos. Als Ärztin hätte sie jeder Patientin dringend von diesem Wagnis abgeraten, um keine Wehen zu provozieren. Andererseits hatte sie das sichere Gefühl, dass die Geburt nicht kurz bevorstand. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie sich so sicher war, sie wusste es einfach.
»Ja, wenn es unbedingt sein muss.«
»Gut, dann ziehe dir warme, unauffällige Kleider an. Ich erwarte dich bei den Pferdeställen. Wir werden die Stadt verlassen.«
16
Kaum eine Stunde später traf Beatrice Dschinkim auf dem Platz vor den Pferdeställen. Er trug den warmen weichen Mantel und die Stiefel eines Viehhändlers und hatte seine fellbesetzte Kappe so tief ins Gesicht gezogen, dass man ihn kaum erkennen konnte. Er betrachtete Beatrice prüfend, ließ seinen Blick über ihren Mantel gleiten, zog ihre Mütze zurecht, sodass auch ihr Gesicht beschattet wurde, und nickte dann zufrieden.
»Gut. Jetzt können wir gehen.«
Er drückte ihr die Zügel der Fuchsstute in die Hand. Heimlich und – so hofften sie wenigstens – unbemerkt verließen sie den Palast durch ein kleines Seitentor.
Auf den Straßen von Taitu herrschte viel Verkehr. Sie bestiegen ihre Pferde und mischten sich unauffällig zwischen die Reiter. Nur langsam kamen sie voran. Schwere, behäbige Ochsenkarren, beladen mit Stroh oder Säcken, versperrten ihnen immer wieder den Weg. Träger, die an langen Stangen über ihren Schultern schwere Lasten schleppten, liefen vor ihnen her, Frauen mit Körben und Krügen wichen ihnen mit mürrischem Gezeter aus. All diese Menschen schienen einem bestimmten Ort zuzustreben. Und tatsächlich, nach etwa zweihundert Metern mündete die Straße auf einen riesigen Platz. Es war Markt.
Der Marktplatz war überfüllt, dicht an dicht drängten sich die Menschen um die Stände. Hühner gackerten, Schweine quiekten, Hunde bellten. Und dann gab es immer wieder hohe Schreie, die klangen, als ob einem Tier der Hals umgedreht würde. Vielfältige, unbekannte Gerüche drangen auf Beatrice ein. Es roch nach Kräutern und Gewürzen, nach Getreide und Staub, nach Rauch und glühenden Kohlen, nach gekochtem Gemüse und Fleisch, nach Blut, Fisch und vielen anderen Dingen, die sie nicht einordnen konnte. In den hölzernen Fässern und mit Wasser gefüllten Schalen ringelten sich Aale und Schlangen, schwammen Krebse oder seltsame molluskenartige Tiere. Laut und mit wilden Gesten feilschten Käufer und Verkäufer um die Waren – um Lebensmittel, Tuch, Schmuck und Haushaltsgegenstände. Während sie sich langsam, Schritt für Schritt, durch das Gedränge schoben, wurden sie ständig angesprochen. Schalen mit Duftkräutern wurden ihnen entgegengestreckt, Speisen und Getränke wurden ihnen aufgedrängt, und Dschinkim bekam eindeutige Angebote von den leicht bekleideten, mit weißem Puder und kräftigem Lippenrot geschminkten Frauen, die an den Ecken und zwischen den Ständen um Kundschaft warben. Immer wieder schüttelten sie die Köpfe, wehrten mit den Händen ab oder ritten einfach weiter, ohne die Offerten zu beachten. Beatrice wurde immer nervöser. Dies hier war kein Markt, wie sie ihn kannte. Es ließ sich nicht einmal mit den bunten, lebhaften Bazaren Bucharas vergleichen. Es war ein für westliche Begriffe undurchschaubares Chaos. In diesem Moment fiel es ihr schwer, zu glauben, dass die Chinesen wirklich ein uraltes Kulturvolk waren.
Sie hatten schon beinahe den Marktplatz überquert, als eine alte Frau sich an Beatrices Pferd drängte. Ihr dünnes weißes Haar umgab ihren Kopf wie ein Kranz aus Spinnengewebe. Ein Auge war blind, ihr Mund war zahnlos und ihr Gesicht von unzähligen Runzeln durchfurcht. Sie sah aus wie eine Verrückte – oder wie eine Hexe. Die Alte umklammerte ihr Bein und sprach auf Chinesisch auf sie ein. Beatrice bekam Angst. Sie verstand die Alte nicht, und es gelang ihr auch nicht, sich aus ihrem Griff zu befreien. Sie wollte schon nach Dschinkim rufen und ihn um Hilfe bitten, als die Alte endlich von ihr abließ. Vielleicht hatte sie begriffen, dass Beatrice sie nicht verstehen konnte. Sie holte etwas aus einem der Beutel, die an ihrem Gürtel hingen, und steckte es Beatrice zu. Es war ein zusammengerolltes und mit
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