Das Rätsel der Templer - Roman
versuchte Gero leise, aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass es nicht zu den hiesigen Gepflogenheiten gehöre, Kindern
Rotwein zu geben. Doch letztendlich kam sie zu dem Schluss, dass es keinen Sinn ergab, hier vor allen mit ihm zu streiten.
Befürchtete sie doch, dass einige der Gäste sofort erkannten, dass Gero Mittelhochdeutsch sprach.
Plötzlich wurde Geros Aufmerksamkeit vom Anblick einer Frau gefesselt, die hastig an einer Zigarette zog und den Qualm stoßweise
aus Mund und Nase wieder ausstieß. Er war so fasziniert, dass sein Mund einen Moment offen stehen blieb, bevor er seinen Krug
Bier bis auf den letzten Tropfen leerte.
Hannah atmete tief durch, sie musste wahnsinnig gewesen sein, ein solches Risiko einzugehen, mit den beiden hierher gekommen
zu sein.
Plötzlich zupfte jemand an ihrem Arm. Fast hätte sie ihren Wein verschüttet.
Ein dunkler Lockenkopf tauchte neben ihr auf. Es war Carolin, ihre Halbtagskraft aus dem Laden, die sich in einen schrillen
Hippie-Look gekleidet hatte.
Rasch verwickelte sie Hannah in ein Gespräch. Natürlich war sie ebenso neugierig auf Hannahs neuen Mitbewohner, nachdem sie
ihn zuvor aus der Ferne eingehend betrachtet hatte.
»Falls er sich irgendwann eine eigene Wohnung nimmt, kannst du ihn ja fragen, ob du bei ihm einziehen kannst«, bemerkte Hannah
sichtlich genervt.
»Wirklich?« Carolin reckte erneut den Kopf in Geros Richtung. »Wo ist er denn? Ich sehe ihn nicht mehr.«
»Was …?« Hannah sah sich erschrocken um. Gero war tatsächlich verschwunden. Ihr zweiter Blick fiel auf Matthäus, der Gott
sei Dank noch immer auf dem Fußboden hockte. »Entschuldige«, sagte |393| sie und schob Carolin zur Seite. Im Vorbeigehen beugte sie sich zu Matthäus hinab. »Warte hier auf mich, nicht weggehen, ich
bin gleich zurück.«
Atemlos wanderte sie zwischen den anderen Gästen umher. Dann glaubte sie, ihr würde das Herz stehen bleiben, als sie Gero
bei einem Fremden entdeckte, mit dem er sich angeregt unterhielt. Sein Gegenüber hatte das lange, braune Haar im Nacken zu
einem Zopf gebunden und war ein ganzes Stück kleiner, aber beinahe genauso breitschultrig. Und augenscheinlich besaß er die
Fähigkeit, mit Gero eine fließende Unterhaltung zu führen. Soweit Hannah beurteilen konnte, war Geros Gesprächspartner weit
aufwändiger gekleidet als die meisten anderen Gäste. Über einem schwarzen Sweatshirt trug er ein kurzärmeliges Kettenhemd
mit einem gelben Überwurf, den auf Höhe der Brust ein schwarzer, aufrecht stehender Löwe schmückte. Seine Beine steckten in
einer eng anliegenden, schwarzen Hose und groben, dunkelbraunen Lederstiefeln. Das sympathische Gesicht zierte ein korrekt
gestutzter dunkler Vollbart. Eine gelungene Aufmachung. Dass er einem echten Ritter gegenüberstand, ahnte der Mann wohl nicht.
Plötzlich drehte sich der Langhaarige um, als hätte er gespürt, dass er beobachtet wurde. Entschuldigend nickte er Gero zu
und näherte sich Hannah. Ein breites Lächeln zauberte Grübchen in sein Gesicht.
»Wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. »Anselm Stein, ich bin der Gastgeber.«
»Hannah Schreyber«, erwiderte sie verstört, wobei sie Gero einen unsicheren Blick zuwarf und dabei beinahe vergaß, dem Gastgeber
zur Begrüßung die Hand zu reichen.
»Schön, dich kennen zu lernen. Judith hat mir schon viel von dir erzählt.«
Hannah schwankte leicht und vergaß, ihm die Hand zu reichen.
»Ist dir nicht gut?« Anselm Stein war offenbar aufgefallen, dass sie erblasste. »Möchtest du was trinken?« Fürsorglich legte
er ihr eine Hand auf die Schulter.
Gero war ebenfalls aufgefallen, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Mit einem Schritt war er bei ihr und versuchte sie
zu beruhigen, indem er ihren Ellbogen umfasste.
»Ach«, sagte Anselm überrascht, »ihr gehört zusammen?«
|394| »Hm«, räusperte sich Hannah und sah ihn unsicher an. »Sozusagen.«
»Sprichst du auch die Langue d’oil?« Neugierig hob der Gastgeber seine buschigen Augenbrauen.
»Wie bitte?« Sie schaute Gero fragend an.
»Nein, sie versteht die Sprache noch nicht einmal«, erklärte er Anselm.
Anselm bemerkte, dass Hannah ein ärgerliches Gesicht machte. »Na ja«, beeilte er sich, auf Hochdeutsch zu antworten. »Altfranzösisch
ist nicht ganz einfach. Es gibt kaum Menschen, die es heutzutage fließend beherrschen, zumal es sich in mehrere Dialekte gliedert.
Gero ist der
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