Das Rätsel der Templer - Roman
Barbaren gehalten. Nun musste
er mehr und mehr feststellen, dass er deren Alltag und zivilisierte Lebensweise vollkommen unterschätzt hatte.
Der Blick auf die Festung bestätigte seine Überlegungen. Wie alle Schlösser und Burgen, die er bisher zu Gesicht bekommen
hatte, |674| wirkte auch dieses Gemäuer elegant und sehr gepflegt. Die Wege sorgfältig gepflastert, die Türme symmetrisch angeordnet, alles
war hell und sauber verputzt.
Der Junge wartete am Übergang zum Turm der Uhr auf ihn – so zumindest hatte man das trutzige Gemäuer später genannt –, aber
nun sah alles anders aus, als Anselm es aus seiner eigenen Zeit kannte. Der Turm war nicht oval, sondern rund, und ein Uhrwerk
beherbergte das trutzige Gemäuer auch noch nicht. Später würde hier einmal Jeanne d’Arc ihr Domizil aufschlagen, den Dauphin
erkennen und auf der Festung eine paar glückliche Jahre im Kreise ihrer Anhänger verbringen. Doch jetzt war sie noch nicht
einmal geboren, ja – noch nicht einmal Jacques de Molay war hier eingekerkert, obwohl er auch noch Jahre hier verbringen würde,
falls es Gero und seinen Leuten nicht gelingen würde, daran etwas zu ändern.
Die Morgensonne prallte auf die hellen Mauern, und für einen Moment atmete Anselm konzentriert ein, als sein Pferd die steinerne
Zufahrt passierte. Ihn schwindelte, und mit einem Mal steigerte sich seine Angst von Minute zu Minute.
Zu seiner Erleichterung sorgte der Botenjunge dafür, dass sie ohne Ausweis und Durchsuchung die Wachen passieren durften.
»Da seid Ihr ja endlich!«, rief eine laute Männerstimme, nachdem sie das Tor hinter sich gelassen hatten.
Ein dickbäuchiger Mann in einer braunschwarzen Uniform tauchte auf und zerrte am Zaumzeug von Anselms Wallach. Das Tier begann
unruhig zu tänzeln, so dass Anselm sich vorsichtshalber entschied, abzusteigen.
»Wer sei denn Ihr?«, stieß der Mann dann hervor.
Anselm spürte, wie seine Lippen taub wurden. Statt zu antworten, holte er das Pergament aus seiner Tasche.
Argwöhnisch betrachtete der Mann das Schreiben. Anscheinend war er des Lesens mächtig und stellte keine weiteren Fragen.
»Wenn Ihr mir folgen wollt«, sagte er nur und klang nun eindeutig freundlicher.
Gero hatte versucht, Anselm auf den Gang ins Verlies vorzubereiten. Dabei war der Templer jedoch so gnädig vorgegangen, um
ihn nicht vorzeitig zu verschrecken, dass er offensichtlich nicht alles erzählt |675| hatte. Anselm wurde das Gefühl nicht los, sich durch das Innere eines stinkenden Wals zu arbeiten, als er dem Mann durch die
grottenartigen, viel zu schmalen Gänge folgte, deren tropfende Decken und Wände nur hier und da von spärlich flackerndem Feuer
beleuchtet wurden.
Eine plötzliche Helligkeit blendete Anselm, und einen Moment später befand er sich in einer hohen Gewölbehalle, die von etlichen
Feuerkörben erhellt wurde. Nur vage nahm er den Geruch von frischem Blut wahr, und als er sich umwandte, blickte er auf einen
völlig zerfetzten Rücken. Allmählich begriff Anselm, dass der Mann, der an dem schräg stehenden Brett aufgehängt war wie ein
abgezogenes Kaninchen, schwerste Folterungen hatte über sich ergehen lassen müssen. Ein leises Stöhnen zeugte davon, dass
der Schwerverletzte noch lebte.
Voller Entsetzen beobachtete Anselm, wie das Blut aus unzähligen Wunden über das muskulöse Gesäß des Mannes lief. Wie konnte
man so etwas aushalten?
Plötzlich packte ihn eine Hand am Oberarm und riss ihn aus seiner Erstarrung.
»Bevor Ihr dafür sorgt, dass er uns nicht verreckt, müsst Ihr Euch erst die Gestalten dort drüben ansehen«, raunte ihm der
Uniformierte zu.
Mit weichen Knien schritt Anselm zu drei wie leblos am Boden liegenden Gestalten.
»Sind die Männer tot?« Er hörte sich selbst sprechen, und seine Stimme erschien ihm, als käme sie aus weiter Ferne.
Sein Gegenüber runzelte verwundert die Stirn. »Ich denke wohl, dass ich Euch das fragen sollte und nicht umgekehrt?«
Wankend beugte sich Anselm über den ersten Mann, dessen Gesicht im Schatten lag. Das eindrucksvoll weiße Haar und die Beschreibung,
die ihm Gero mit auf den Weg gegeben hatte, kündeten davon, dass es sich um Henri d’Our handeln musste. Mit dem Daumen zog
Anselm dessen oberes Lid in die Höhe und betrachtete die hellgraue Iris darunter, deren stecknadelgroße Pupille nicht die
geringste Regung zeigte.
»Er ist tot«, sagte er. Es fehlte ihm nicht an Überzeugung in der Stimme, weil er beinahe
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