Das Rätsel der Templer - Roman
sein Ohr auf die Brust des Mannes. Gleichzeitig
ergriff er dessen Handgelenk.
»Was tust du da?«, fragte Anselm, der sich zwar denken konnte, dass Struan die Atmung und den Herzschlag des Mannes überprüfte,
sich aber über dessen professionelles Vorgehen wunderte.
|672| »Der Herzschlag ist kaum noch zu hören«, murmelte der schottische Templer besorgt. »Wir sollten ihn zurück in sein Bett verfrachten.«
Anselm nickte unsicher. Er stellte sich die Frage, wie sie den Medicus die enge Treppe hinauf befördern sollten, doch dann
packte Struan den am Boden liegenden Mann wie einen leblosen Tierkadaver und hievte ihn auf seine linke Schulter. Ohne auf
Anselms Hilfe angewiesen zu sein, stapfte er die knarrenden Stiegen hoch, während die Arme des Medicus wie die Glieder einer
Marionette über seinen breiten Rücken hüpften.
Anselm überlegte, ob er Struan folgen sollte, doch im nächsten Moment pochte jemand heftig gegen die Haustür, und einen Atemzug
später stand ein Junge von etwa vierzehn Jahren im Zimmer und starrte ihn überrascht an.
»Wo ist der Medicus?«, stieß der plötzliche Besucher atemlos hervor.
Mit einem raschen Blick inspizierte Anselm die Kleidung des Jungen. Anscheinend war er ein Knappe oder Page.
»Der Medicus ist krank«, verkündete er ruhig. »Ihr werdet mit mir vorlieb nehmen müssen.«
Der Junge überhörte seinen Einwand und runzelte die Stirn. »Ich komme im Auftrag des Burgvogts. Es ist äußerst dringlich.
Wo ist der Medicus? Liegt er im Bett?« Ohne Anselms Antwort abzuwarten, stürmte er die Treppe hinauf.
Für einen Moment war Anselm zu überrascht, um dem Knappen zu folgen. Dann vernahm er einen erstickten Aufschrei, den er nicht
sofort deuten konnte. Hatte der Junge den Medicus entdeckt, oder hatte Struan ihn etwa außer Gefecht gesetzt?
Anselm atmete tief durch und hastete in den ersten Stock. Von Struan war weit und breit nichts zu sehen.
»Ich sagte doch, dass er krank ist«, bemerkte Anselm, während er hinter den Jungen trat, der den reglosen, im Bett aufgebahrten
Medicus erstaunt anschaute.
»Er sieht aber gar nicht krank aus«, erwiderte der Bengel tonlos, wobei er auf das wächserne Gesicht stierte. »Er sieht aus
wie tot!«
»Er ist nicht tot, er hat nur das Bewusstsein verloren«, erklärte Anselm.
»Und wer bei allen Heiligen seid Ihr?« Der Botenjunge sah ihn aufgebracht an.
|673| »Ich bin sein Freund«, antwortete Anselm und versuchte seiner Stimme einen überzeugenden Klang zu verleihen. »Ich vertrete
ihn als Medicus, solange bis er … bis er wieder gesund ist.«
»Ihr seid ein Medicus? Dann lasst uns gehen!«, rief der Junge ein wenig erleichtert. »Wenn Ihr die gleichen Fähigkeiten besitzt
wie Euer Compagnon, müsst Ihr nicht mich überzeugen, ob Ihr etwas taugt, sondern den Vogt.«
Bevor er dem Jungen hinunter in die Wohnstube folgte, sah sich Anselm noch einmal verstohlen um, doch Struan blieb verschwunden,
wie ein Geist, der sich durch eine Ritze verflüchtigt hatte.
Im Untergeschoss angekommen, nahm Anselm zitternd die Arzttasche und ging mit dem Jungen nach draußen. Im letzten Augenblick,
bevor sie das Haus verließen, fiel Anselm die Bescheinigung ein, die der Medicus für ihn geschrieben hatte. Anstatt das Pergament
zu rollen, wie es allgemein üblich war, faltete er es hastig zusammen und steckte es in eine Seitentasche seines schwarzen
Wollsurcots.
Die Morgensonne hatte mittlerweile die schmalen Gassen an der Stadtmauer erreicht, trotzdem war es immer noch bitterkalt.
Der Junge war zu Fuß in die Stadt hinuntergelaufen, daher folgte Anselm ihm ebenfalls zu Fuß den Berg hinauf, während er sein
Pferd am Zügel führte. Doch nach kurzer Zeit war der Abstand zwischen ihm und dem Jungen bereits so groß, dass er sich entschloss,
aufzusitzen, um dem flinken Boten hoch zu Ross zu folgen.
Während er sich der Burg näherte, wurde ihm immer mulmiger zumute. Er war ein Mann aus dem 21. Jahrhundert. War es da nicht
Irrsinn, dass er einen Medicus des Mittelalters spielen sollte? Und falls es ihm tatsächlich gelingen würde – was wäre, wenn
jemand dahinter kam, dass sein Empfehlungsschreiben gefälscht war? Was wusste er trotz all seiner Kenntnisse von den wahrhaftigen
Gepflogenheiten dieser Epoche und den Aufgaben eines Medicus? Nichts, absolut nichts. Wenn er ehrlich war, hatte er die Menschen
des Mittelalters trotz seiner Faszination für diese Zeit in erster Linie für schwertschwingende
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