Das Rätsel des Orakels - Die Zeitdetektive ; 8
durften sie den Tempel nicht mehr verlassen, wieso beobachtete man offenbar jeden ihrer Schritte? Hatten sie zu viel gesehen? Schwebten sie in Gefahr? Sollte Irinis Verschwinden unter den Teppich gekehrt werden? Das schien Kim einleuchtend zu sein. Die Show musste weitergehen, Delphi lebte vom Orakel und duldete keine Störungen des Geschäftsablaufs.
Kim presste die Lippen fest aufeinander. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen, sie war fest entschlossen, das Rätsel um Irini zu lösen. Sicher dachten Leon und Julian ebenso.
Unterdessen kümmerten sich Leon und Julian unter der Anleitung von Theodorus um den Ratsuchenden, der das Orakel befragen wollte. Es handelte sich um einen reichen Schmuckhändler aus Athen. Auch er wurde zur Quelle gebracht, allerdings deutlich nach der Pythia. Dann führte der Priester den Händler und die Kinder in den Pronaos , die Vorhalle des Tempels. Dort war die Aufschrift „Gnothi Sautón“ eingemeißelt worden: „Erkenne dich selbst“.
Sobald sich Leons und Julians Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, staunten sie. Überall glitzerte es. In einer Ecke stand ein goldenes Weihwasserbecken, in einer anderen ein silberner Stier, in der dritten eine Säule aus Bronze, verziert mit goldenen Sternen.
„Bist du bereit, den Pelanos zu entrichten?“, fragte Theodorus den Schmuckhändler. Der Mann nickte eifrig und zog unter seinem reich verzierten Himation einen Geldbeutel hervor. Theodorus warf einen Blick hinein. Ohne das Gesicht zu verziehen, ließ der Priester den Beutel unter seinem Gewand verschwinden.
„Warte hier“, sagte Theodorus und deutete auf eine Bank neben einer breiten Flügeltür aus Zypressenholz, die mit Elfenbeinschnitzereien verziert war.
„Liegt hinter dieser Tür das Adyton , das Allerheiligste?“, wagte der Schmuckhändler zu fragen. Seine Stimme war nur ein ehrfürchtiges Flüstern.
„Du sagst es“, entgegnete Theodorus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber jetzt schweige und warte.“
Nachdem sich die Pythia an der Kastalischen Quelle symbolisch gereinigt hatte, war die Prozession zur Orakelstätte zurückgekehrt und hatte den Apollontempel betreten. Die Pythia legte den Schleier ab. Auf dem Altar der Göttin Hestia in der Mitte des Tempels loderte das ewige Feuer. Nun holten zwei Männer ein lebendes Zicklein heran und setzten es vor dem Altar ab. Korobios schüttete etwas kaltes Wasser, das ihm Kim in einem Eimer reichte, über den Rücken des Tieres und beobachtete die Reaktion der Ziege.
„Gut“, sagte Korobios erleichtert. „Die Ziege hat gezittert. Das ist das göttliche Zeichen, dass Apollon bereit ist.“
Nun wurde das Tier auf dem Altar geopfert. Kim wandte sich entsetzt ab und erntete dafür einen Tadel von Korobios. Er presste ihr Weihrauch , Bilsenkraut und Laudanum in die Hand und befahl ihr, diese im ewigen Feuer zu verbrennen. Kim gehorchte. Die Pythia trat dicht an den Altar heran und sog gierig den Duft ein, der dem Feuer entströmte. Plötzlich begann sie zu taumeln. Der Rauch musste eine berauschende Wirkung haben. Sofort eilte Korobios herbei und stützte die Pythia. Dann führte er sie und die anderen in das Adyton. Unauffällig hielt Kim nach Kija Ausschau, konnte die Katze aber nicht entdecken.
Das Adyton wurde vom Licht des heiligen Feuers erhellt. Sein flackernder Schein fiel auf eine goldene Apollon-Statue, den heiligen Lorbeerbaum und einen Grabstein. Mühsam konnte Kim die Inschrift entziffern – es handelte sich um das Grab von Dionysos, Sohn des Zeus.
An der Rückwand des Raums lag ein großer, kegelförmiger Stein. Kim ahnte, dass es sich um den Omphalos handelte, den die Griechen für den Mittelpunkt der Erde – den Nabel der Welt – hielten. Gerade als sie ihren Blick wieder abwenden wollte, stutzte sie: Kija hatte es irgendwie geschafft, sich mit in das Adyton zu schleichen und verbarg sich ausgerechnet hinter dem heiligen Stein! Kim wurde nervös. Wenn Korobios die Katze entdeckte, gab es bestimmt gewaltigen Ärger.
Doch der Priester konzentrierte sich ganz auf Thargelia. Unsicher nahm die Pythia auf dem geweihten Dreifuß Platz und schloss die Augen. Korobios reichte ihre eine silberne Schale, in der eine weiße und eine schwarze Bohne lagen.
Schritte wurden laut. Kim hörte leise Stimmen, darunter die von Theodorus. Und jetzt erst bemerkte sie rechts von sich einen schlichten Vorhang, der sich gerade bewegte, als habe ihn ein Wind erfasst. Kim vermutete, dass hinter dem Vorhang
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