Das Rätsel Sigma
abgebrochen und waren schlafen gegangen, wo sie sich gerade befanden: Eine Couch und ein paar zusammengeschobene Sessel im Direktionszimmer der Plastvermüllung genügten ihnen.
Sie sollten auch nicht lange schlafen. Gegen vier Uhr rief Dr. Willenius aus dem Kernkraftwerk an und bat Herbert dringend dorthin zu kommen. Herbert sagte zu, und Fred, der ebenfalls wach geworden war, ließ sich nicht abweisen. Ein Hubschrauber, der inzwischen beinah so eine Art Dienstfahrzeug für Herbert geworden war, brachte beide schnell nach Neuenwalde.
Dr. Willenius reichte ihnen wortlos eine Art Fotografie, ein schwarzes Blatt, über das in verschiedenen Abständen verschieden starke weiße Streifen liefen, drei waren es, waagerecht angeordnet.
„Das muß etwas sehr Wichtiges sein, wenn du uns deshalb herbeiholst?“ vermutete Herbert.
Der Chemiker nickte zustimmend. „Ja, deshalb hab ich meine Helfer ins Bett geschickt und auf euch gewartet. Das sind die Zerfallsprodukte des Sigmaphagins, das wir radioaktiv markiert hatten, in einem Chromatografen voneinander getrennt.“
Herbert merkte am Ton der Antwort und an dem Glitzern in Dr. Willenius' Augen, daß das erst die Einleitung war.
„Wir hören“, sagte er.
„Mit einer einzigen Annahme, die alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, nämlich, daß die Phagin-Moleküle stets an ein und derselben Stelle zerfallen, kommen wir zu ziemlich weitreichenden Schlußfolgerungen. Zunächst konnten wir aus der Stelle, wo sich die Zerfallsprodukte im Chromatografen abgesetzt hatten, und aus der verschieden starken Strahlungsintensität die Bruchstücke bestimmen und damit den Bereich des Moleküls, der so unordentlich genäht ist, daß die Naht bei entsprechender Belastung reißt. Seht mal hier!“
Der Chemiker ließ auf einem Schirm das Bild des Moleküls erscheinen und zeigte auf eine bestimmte Stelle. „Seht ihr hier den Phosphor-Komplex?“
„Nein“, gestand Herbert.
„Schade“, meinte der Chemiker. „Das sind gerade die Schönheiten einer solchen Formel. Aber weiter. Dieser Komplex befindet sich in einem thermodynamisch labilen Gleichgewicht. Hm, das versteht ihr ja auch wieder nicht. Also: Ein Tiger balanciert auf einem großen Ball. Wenn man den Ball plötzlich anstößt, fällt der Tiger runter und zerfetzt vor Wut auch den Ball. Nur ist das natürlich kein Zirkusball, sondern ein Quantenball, der Anstoß muß also eine ganz bestimmte Stärke haben. Soweit klar?“
Herbert sah Fred an, der nickte. „In Ordnung, weiter bitte“, sagte Herbert.
„Die Energie, die der Zerfall auslöst, konnten wir berechnen. Der Energiefluß des Reaktors hat zahlreiche Teilchen, die eine solche Energie tragen.“ Der Chemiker verschränkte die Arme vor der Brust und sah die beiden erwartungsvoll an.
„Ja, und?“ fragte Herbert unsicher.
Fred dagegen, weniger von wissenschaftlichen Kenntnissen gehemmt, dachte sofort praktisch. „Kann man dann nicht die Köpfe der Kranken mit solchen Teilchen bestrahlen?“ fragte er erregt.
Der Chemiker breitete bedauernd die Arme aus. „Das war auch unser erster Gedanke. Aber die Strahlungsintensität wäre in jedem Fall zu hoch, zu schädlich. Ihr wißt ja wohl, daß es bei Bestrahlungen dieser Art gleich ist, in wieviel Zeit sie erfolgen, sie addieren sich immer.“
Inzwischen hatte Herbert weiter gedacht. „Wenn man nun gar nicht das fertige Sigmaphagin in den Reaktor bringt, sondern irgendeine Vorstufe, vielleicht die Bakterien oder die Nährböden, auf denen sie wachsen? Dann würde man doch stabiles markiertes Phagin erhalten!“
„Bravo!“ sagte der Chemiker. „Wir haben solche Nährböden bestrahlt. Ob das funktioniert, werden wir sehen.“ Er blieb abwartend stehen, so, als sei eine Nebensache nun besprochen, und die Hauptsache käme erst.
„Sehr warm hier!“ sagte er nach einer Weile.
Herbert spürte, daß er sie auf irgendeinen Gedankengang locken wollte, aber er wußte noch nicht wohin, und deshalb beschloß er, das Spiel mitzuspielen, den angerissenen Gedanken weiterzuführen.
„Der Reaktor liefert genug Wärme für ganz Neuenwalde“, sagte er.
„Und was zum Beispiel verbrennt euer Heizwerk in der Bezirkshauptstadt?“ fragte der Chemiker.
„Ich glaube, Öl“, antwortete Herbert nachdenklich.
„Was soll denn das?“ fragte Fred verwundert.
„Laß nur“, sagte Herbert, „ich glaube, Onkel Richard vertritt die Auffassung, selber denken macht klug. Du willst also sagen: Hauptsache, es ist warm, ganz egal, womit
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